ZEHNTES KAPITEL

in dem wir, unter Aufsicht gestellt, weiterreisen dürfen.
Es handelt auch von Grammatik und anderen Künsten. Wir erreichen Samdavjun.

Ich wurde von Fontes heller Stimme geweckt. Er sprach mit einem Gnom, der mit einer stark nach Bergamott duftenden Kanne Tee in unserem Zimmer stand. "Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen. Du hast uns genau zur richtigen Zeit geweckt. Wenn man nicht mindestens eine Stunde geritten ist, hat man nicht das richtige Gefühl für das Wunder des Sonnenaufgangs. Wir machen uns eilig fertig!"
"So umgehend wie geschwind" , lachte der Gnom und klopfte Fontes auf den Rücken.
Nach einem schnellen Frühstück wurden wir vor den Fürsten geführt. Tiedgi hielt wieder die Kristallkugel in der Hand. In förmlichen Worten dankte er uns noch einmal und versicherte, jeder von uns sei in seinem Land jederzeit willkommen. Er wünschte Fräulein Kommer eine gute Heimkehr und trug ihr Empfehlungen an den Kanzler auf.
Dann bat er um Verständnis dafür, daß er uns nicht nur zu unserer Sicherheit sondern auch im Interesse seines Volkes eine Begleitung bis Samdavjun mitgeben werde. Franksi sei nicht nur ein Mitglied des Grauen Ordens, sondern auch einer seiner Untertanen gewesen. Falls Fontes etwas aus der Hinterlassenschaft in der Kapelle entfernen wolle, bedürfe er der Genehmigung der Gnome. Dann legte der Fürst die Kristallkugel aus der Hand und war wieder der freundliche Alte, der uns das schöne Fest beschert hatte.
"Ihr werdet mit der Begleitung zufrieden sein", lachte er und ging mit uns nach draußen auf den Hof. Dort hielten kleine Männer unsere gesattelten Pferde. Drei leichtgerüstete Gnome saßen reisefertig auf grauen Rennkamelen.
"In den Sattel, Männer!" erklang Martinas fröhliche Stimme.
"Wir wollen aufbrechen".
"Laßt Euch von ihr nicht herumkommandieren", rief Tiedgi. "Seit sie aus der Stadt zurück ist, hockt sie im Turm über ihren Büchern. Ich habe ihr befohlen, mitzureiten, weil sie Bewegung braucht. Sie wird allmählich faul und fett und träge".
Unter dem Lachen und Winken der Gnome ritten wir durch das Tor. Die Sterne wurden fahl. Als die Sonne über dem Horizont aufging, hielten wir an und drehten uns um.
Der weißgoldene Turm schimmerte im Morgenlicht wie ein Juwel. Während die Sonne höherstieg verschwand das Bild in den Schleiern der schützenden Illusion. Wir sahen auf die braunen Hänge des Kirpan-Gebirges. Dort wo der Turm gestanden hatte, war die Gebirgsflanke nun von dem hellen Streifen eines frischen Abbruchs markiert.

Die Sonne schien auf ein stummes Land voller lebloser Steine.
Pferde, Kamele und Maultiere setzen ihre Hufe vorsichtig zwischen scharfkantiges Geröll. Erst nach zwei oder drei Stunden wurden die Geröllbrocken kleiner und die Tiere beschleunigten ihre Schritte über festen Kieseluntergrund und harten Sand. Wir ritten in eine Senke und folgten einige Stunden einem ausgetrockneten Flußlauf mit feinem weichen Sand.
Am frühen Nachmittag verließen wir die Senke, um einen langgestreckten Hügel hinaufzureiten. Hier wuchs braunes Gras und gelegentlich auch spärliches trockenes Gebüsch.
Während wir bis jetzt in langer Reihe auseinandergezogen geritten waren, so daß eine Unterhaltung nicht möglich war, rückte die Gruppe auf der leichten Steigung näher zueinander auf.
Fontes begann höflich ein Gespräch mit Martina und fragte sie, was sie denn im Augenblick lese. Martina antwortete heiter, sie beschäftige sich mit Buris Feldzug gegen die Arditen. Fontes war entzückt. Dieses sehr lehrreiche Buch kenne er auch, und er begann in der ehrwürdigen Sprache unserer Vorfahren den Anfang des Textes zu rezitieren.
Donisl drängte seine Stute gegen die meine und grinste boshaft, er habe eine sehr ungute Vorahnung, aber er wolle trotzdem das Schauspiel unbefangen genießen. Und Fontes geriet auch schon bei der Stelle ins Stocken, als Buris Truppen das erste befestigte Lager an der Grenze zum Feindesland errichteten. Martina half Fontes über die Stelle mit den hölzernen Palisaden hinweg, aber Fontes kam jetzt stark ins Schwimmen.
Martina meinte freundlich , wenn Fontes den Text nicht mehr wortgetreu wisse, solle er ruhig frei nacherzählen. Doch Fontes verhedderte sich rettungslos. Als ihm eine schöne rhetorische Neuschöpfung gelang. wurde Martinas Stimme strenger. Sie bat den Mönch, ihr das soeben vorgetragene Oxymoron näher zu erläutern. Donisl flüsterte, jetzt sei Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit, und wir sollten doch lieber etwas weiter zurückfallen. Ein Hund solle sich eben nicht am Stock des Schäfers reiben.
Aus sicherer Entfernung sahen wir, wie Fontes noch eine Zeitlang neben Martina herritt und wild mit den Armen gestikulierte.
Der arme Kerl war am Rande der Vernichtung.
Dann stieß Fontes seinem Maulesel die Fersen in die Seite und ergriff die Flucht nach vorne zu den beiden weit voraus reitenden anderen Gnomen.
Martina lachte und rief irgend etwas Versöhnliches hinterher.
Aber Fontes sah sich nicht um.
Am späten Nachmittag ließen die Gnome uns in einer kleinen Senke anhalten. Fontes war immer noch beleidigt und meinte, wir würden einen halben Tagesritt verschenken, aber Martina antwortete fröhlich, der Fürst habe eine bequeme Reise angeordnet, und wir seien schon näher an der Kapelle, als Fontes vielleicht ahne. Die beiden anderen Gnome unserer Begleitung waren lustige Burschen aus der Leibwache des Fürsten. Der jüngere sagte, er wolle noch ein kleines Stück vorausreiten und dann in einem weiten Bogen zurückkehren, um auch den unwahrscheinlichen Fall auszuschließen, daß sich noch andere Reiter in diesem Teil des Landes aufhielten.
Der ältere, offensichtlich erfahren im Umgang mit starrköpfigen Jugendlichen, bemühte sich, Fontes Laune wiederherzustellen.
Er fragte ihn ernst, wo wohl der beste Platz für das Feuer sei, und wo die Pferde und die Kamele weiden sollten. Fontes überraschte uns mit der umwerfenden Neuigkeit, Pferde und Kamele würden am besten getrennt gehalten, und er bestimmte ohne Widerspruch zu dulden, den Platz für die Feuerstelle. Als er mit dem Gnom Äste für das Feuer suchen ging, gelang ihm schon ein schwaches Lächeln.
Der Fürst hatte reichlich einpacken lassen und so hatten wir zu unserem Mahl sogar etwas Wein, den wir mit Wasser verdünnten. Während des Essens versuchten alle, mit Martina näher bekannt zu werden. Nur Fontes hielt sich noch vorsichtig entfernt.
Martina hatte an der Universität von Ber Gama die alten Sprachen studiert und dort vor einigen Monaten den Magister gemacht. Alle waren gebührend beeindruckt und der Barbar Trent d' Arby sogar etwas verlegen.
Um dies zu überspielen erzählte Martina, die einen ausgeprägten Sinn für das Lächerliche zu haben schien, von einigen tollen Studentenstreichen, die sie zusammen mit anderen auf der Universität verbrochen hatte. Sie log dabei so schamlos, daß Donisl sich an seinem Wein verschluckte und ich ihm kräftig auf den Rücken schlagen mußte.
Martina erzählte gerade von einer Abschiedsfeier für den alten Pimpardil, bei der sie und eine Freundin sich in weißen Nachthemden als Engel verkleidet in den Festzug eingeschlichen hätten. Mit den Honoratioren seien sie bis in den Heiligen Bezirk gelangt und hätten von der Festtafel in den Arkaden jede eine Torte gestohlen, während drinnen im Tempel die feierlichen Reden gehalten wurden.
Etwas später ging mir auf, daß ich Pimpardils Namen noch nie im Zusammenhang mit den alten Sprachen gehört hatte und fragte mich, warum der Magier sich gerade in dem Augenblick verschluckt hatte , als dieser Name erwähnt wurde.
Trent d'Arby war nun zutraulich geworden und faßte Martinas Hand, um ihren Daumenring zu bewundern, eine schöne milchig weiße Jade mit glitzernden grünen Punkten. Er lobte den Ring und fragte Martina, warum sie während des Reitens einen Handschuh mit drei Fingern getragen habe, wo es doch ausreiche, Zeigefinger und Mittelfinger mit Leder zu schützen. Martina wollte das auf der Stelle erklären und während Fontes und der ältere Gnom abräumten, holte sie ihren Köcher.
Die Pfeile waren zu zwei Reihen übereinander angeordnet. Martina zog ihren Handschuh über und zeigte, wie sie mit einer Bewegung zwei Pfeile in Federn-Abstand aus dem Köcher holte, wobei der erste über dem Daumenring lag, der zweite zwischen Mittel- und Ringfinger gehalten wurde.
Trent d'Arby hielt das für Spielerei. Einen Pfeil nach dem anderen, ruhig spannen und gleichmäßig schießen, das ergäbe genug Geschwindigkeit. Der zweite Pfeil neben der Sehne würde nur stören.
Ein grinsender Gnom reichte Martina den Bogen. Der andere suchte im Hang eine sandige Stelle ohne Steine und zeichnete einen Kreis. Martina hängte den Köcher über die Schulter, rückte ihn zurecht und trat einen Schritt vor. Der linke Fuß zeigte auf das Ziel, der andere stand dazu in einem fast rechten Winkel. Dann griff sie über die Schulter und hob den Bogen. Die Sehne brummte. Wieder sahen wir die fließende Bewegung und dann noch einmal. Sechs Pfeile steckten in dem Sandkreis, drei Serien jeweils eine Handbreit voneinander entfernt.
"Donnerwetter", brüllte Trent d'Arby, "und wie sieht es vom Pferderücken aus?" "Bestens", sagte Martina. "Aus weiter Entfernung ist es sehr gut , wenn viele auf den Feind schießen.
Aber auch wenn der Abstand kürzer wird, nehme ich noch zwei Pfeile".
Wir gingen zu dem Ziel, um die Pfeile wieder einzusammeln.
"Onkel Gregor", sagte der Barbar, "diese Gnomenfrau hat unsere Gruppe beschämt. Zeig ihr, wie ein alter Schmied mit dem Hämmerchen Felsen zertrümmert".
"Ja, wirf den Hammer, Onkel Gregor", pflichtete Loger bei.
"Nun", sagte ich, "mit dem Bogen schießen ist eine edle Kunst. Werfen ist dagegen fast unfein". Fontes war herangeschlendert.
"Auch Werfen ist eine Kunst", sagte er. "Auf dem Hof meines Vaters haben wir Jungen Wettbewerbe gemacht, und ich war immer der Beste".
"Natürlich warst Du der Beste", stichelte der Magier. "Zeig uns das Kunstwerfen".
Fontes überhörte den Spott und suchte fünf runde Steine. Er warf den ersten ein gutes Stück weiter weg auf eine Sandfläche, und zielte dann mit dem zweiten. Der zweite Stein traf den ersten und ließ ihn hochhüpfen. Der dritte, vierte und fünfte Stein folgten und wirbelten den ersten Stein immer ein Stück weiter.
"Bravo", höhnte Donisl. "Damit gewinnst Du auf dem Marktplatz jedes Steinballspiel. Darf ich gelegentlich auf Dich wetten?"
Fontes wurde rot. Er band den Strick von seiner Mitte und knüpfte mit einer geübten Bewegung eine Schlaufe. Dann suchte er einen weiteren Stein und legte ihn auf die Schlaufe. Bei der dritten Schleuderbewegung flog der Stein los, traf den schon viermal getroffenen Stein und ließ ihn zerplatzen.
"Gut!" rief Trent d'Arby. "Das ist die erste und älteste der Kriegskünste. Den dicken Stein dahinten! " Fontes suchte einen runden Stein, etwas kleiner als faustgroß und sagte: "Ich stelle mir vor, der Stein dahinten ist ein fetter Magier. Paß auf, Donisl!"
Dann flog der Stein in einem flachen Bogen aus der urtümlichen Schleuder. Wir folgten seiner Bahn, der Stein senkte sich und traf den dicken Brocken mit einem dumpfen Ton in der Mitte. Der Brocken zerfiel langsam in zwei Hälften.
"So viel zu Hexern", meinte Fontes und band den Strick wieder um. Donisl nickte dem Mönch zu. "Bruder Fontes, Du bist ein wahrer Mann des Friedens. Deine Wahl, in den Grauen Orden einzutreten, war genau die richtige. Du gehörst hinter ganz dicke Klostermauern".
Fontes tat so, als suche er einen neuen Stein und Donisl lief lachend zurück zu dem Feuer. Die beiden Gnome und Trent d'Arby holten die Pferde, die Maultiere und die Kamele näher heran, und nach Fontes' Rat pflockten wir die Kamele auf der anderen Seite des Feuers an.
Martina erzählte weiter von ihrer Zeit auf der Universität, aber diesmal mit einem schwärmerisch ernsten Unterton. Sie hielt die alten Sprachen nicht nur für die beste Schulung des Geistes, sondern auch für eine Erquickung des Gemüts und der Seele. Sie rezitierte in freier Übersetzung das berühmte Liebesgedicht des Romma an die Waldnymphe, bis Trent d'Arby mit einiger Verärgerung sagte, soviel Gemüt sei für ihn zu viel.
Donisl lenkte ab und meinte, die Alten seien vor allem mutige Krieger und kühne Strategen gewesen. Er trug als Beispiel Buris Bericht über den Flußübergang vor. Davon verstand der Barbar nun einiges. Er pflichtete Buris Befehlen im wesentlichen bei, hielt es aber für ungeschickt, die Reiter einzeln den Fluß überqueren zu lassen. Das führe nur zu dummem Streit und unnützer Rivalität, wer als erster am Feind sei. So habe er mit irgendeinem Freund anläßlich einer kleinen Grenzstreitigkeit mit dem Ostreich ein Wettrennen zum dortigen Grenzfluß gemacht. Vorher habe er natürlich den Sattelgurt seines Freundes heimlich gelockert. Dieser habe mit seinem besseren Pferd als erster das Flüßchen erreicht, sei aber dann sehr schön mit Gebrüll und Sattel im Wasser verschwunden. So habe er zwar das Wettrennen gewonnen, die Sache hätte aber auch schlecht ausgehen können, wenn die feindliche Patrouille nicht Hals über Kopf geflohen wäre. Außerdem sei sein Freund dann noch eine halbe Stunde hinter ihm her gelaufen und habe ihn mit dem Speerschaft verprügeln wollen. Das erinnerte Fontes an die Geschichte, wie er die Hosen seines ältesten Bruders am Sonntag vor dem Gang in den Tempel mit einer Handvoll Kletten gespickt hatte, und einige Zeit tauschte die Runde nun ähnliche Erinnerungen aus. Schließlich gebot ich Ruhe. Ich würde die erste Wache übernehmen, das sei ein Vorrecht meines Alters. Loger sollte die zweite Wache wegen seiner Nachtsicht nehmen, die dritte Wache sollte der Barbar gehen und . . . "Ich weiß schon", sagte der ältere Gnom. "Ich mache den Tee und wecke Euch". So viel zu Anordnungen des Fürsten über eine bequeme Reise. Am nächsten Morgen war es sehr kalt. Das Frühstück und der Tee konnten uns nur für kurze Zeit erwärmen. Nach einem halbstündigen Ritt warf Fontes die Zügel seines Maulesels dem Magier zu, sprang ab und hängte sich an meinen Steigbügel. Nach einer weiteren halben Stunde ließ Martina ihr Kamel niederknien und gab die Zügel dem jungen Gnomen. Am Steigbügel des Barbaren lief sie weiter. Ich sah, wie Raffaela auf ihrer Stute einen durchfrorenen und unglücklichen Eindruck machte und offenbar mit einem Entschluß rang.
"Nur zu, nur zu!" rief Loger, "steig ab und versuch es auch".
Raffaela hielt dankbar ihr Pferd an und stieg mit steifen Gliedern aus dem Sattel. "Komm zu mir", sagte Loger und nahm die Zügel der Stute. "Häng Dich leicht in meinen Steigbügel und los geht es. Laufen sollte jeder können. Es ist manchmal sehr nützlich". Dann ritt er in langsamem Trab los.
Zuerst zählte er Raffaela die Schritte vor, links und links und links und links. Dann zählte er für den Atem. Ein und ein und aus und aus. Stärker ausatmen!
Als Raffaela nun merklich freier neben ihm lief, begann er einen Singsang, den er irgendwann einmal von einem Soldaten aufgeschnappt haben mochte, und Raffaela mußte jetzt statt des lauten Ausatmens seine Worte wiederholen. Aufrücken, aufrücken, Lanze heben, Lanze heben, Lanze senken, Lanze senken, Spieß nach vorne, Spieß nach vorne, Hurra. "Das Hurra sollst Du laut schreien, Mädchen. Das macht die Lungen frei". Raffaela schämte sich aber und ihr Hurra kam nur kläglich. Da begannen Martina und Trent d'Arby mitzusingen und im gröhlenden Hurra des Barbaren gelang auch Raffaela ein annehmbares Geschrei. Es klang bald wie der Angriff einer mittleren Armee, und die Springmäuse würde es sobald nicht wieder wagen, aus ihren Löchern herauszukommen. Als das Lied abgenutzt war, begann Donisl zu improvisieren. Er sang im Rythmus der Läufer den Text von "Des Hauptmanns junge Frau". Er sang allein, nur das Hurra mußten die Läufer noch rufen. Als der empörte Fontes schon aus dem Tritt gekommen war, und Martina schon gluckste, rief nur noch Raffaela an einer sehr zweideutigen Stelle "Hurra", und das Laufen war damit beendet.
Trent d'Arby brüllte vor Freude, und der ältere Gnom schlug sich so auf die Schenkel, daß sein Kamel einen erschreckten Satz machte.
Ich ordnete an, daß alle absteigen und Stück gehen sollten, damit die Beine der Läufer geschmeidig blieben. Loger lobte Raffaela sehr, sie sei immerhin mehr als zwanzig Minuten flott gelaufen, und das sei für eine Stadtpflanze schon eine Leistung. Raffaela war über sich selbst erstaunt und sehr mit sich zufrieden. Sie fragte Loger nach dem genauen Text des Liedes, das Donisl gesungen hatte, und ich war froh, daß dieser antwortete , er kenne selbst die letzten Strophen nicht so richtig. Der Kanzler Kommer wäre bestimmt nicht beglückt, wenn seine Tochter eines Tages unversehens "Des Hauptmanns junge Frau" zur Harfe singen würde. Die Sonne ging auf, und mit ihr kehrte die Wärme wieder. Bald konnten alle getrost aufsitzen und den Weg auf Pferde- oder Kamelrücken fortsetzen.
Wir ritten einige Stunden über dürres Gras, bis wir in eine neue andersartige Felsenlandschaft kamen. Die Felsen waren erst mannshoch wie an der Stelle, an der wir in Shandris Hinterhalt gelaufen waren. Dann wuchsen die Felsen haushoch und höher. In ihrem Schatten hielt sich genug Feuchtigkeit, um grünes Gras und Büsche mit richtigen grünen Blättern wachsen zu lassen.
Unser Staunen war groß und die Gnome schmunzelten. Bald würden wir wirklich staunen können. Wir ritten um einen gewaltigen Felsen in eine kleine Senke. Vor uns lag die Stelle, die Fontes in unserer ersten Nacht in der Wüste mit einer hellseherischen Vorahnung beschrieben hatte. Es war ein kleiner See mit klarem blauem Wasser und schilfbestandenem Ufer. Reiher waren zwar nicht da, aber wunderbarerweise stakste ein Storchenpaar durch das flache Ufer und wühlte mit den roten Schnäbeln im Grund.
"Das ist Samdavjun", sagte Martina und zeigte nach vorne.
Auf einem Felsen hinter dem See erhoben sich die Reste eines alten Wachtturms, an dessen Fuß einer kleiner Anbau gemauert war.
"Laßt die Tiere laufen", sagte einer der Gnome. "An diesemOrt droht keine Gefahr".

Fontes kniete am Rand des Sees nieder und ließ die Hände durch das Wasser gleiten. "Es ist wie ein Wunder. Hier braucht der Mensch wirklich keine Illusionen mehr". Nachdem die Tiere abgesattelt waren und jeder sich am Wasser erfrischt hatte, stiegen wir über einige steile Stufen zur Kapelle hinauf. Die Holztür stand einladend offen.
"So hat er es immer gehalten", sagte Martina. Im ersten Raum standen ein großer Tisch mit zwei Bänken und einer Schlafbank an der einen Seite, auf der anderen Seite war ein Kamin mit einem kleinen Holzvorrat. Neben dem Kamin standen Kochgeräte und leere Krüge. An der Stirnseite des Raumes gingen links und rechts je eine Tür ab.
"Die linke geht in Franksis Zelle", sagte Martina, "dorthin soll der Mönch später alleine gehen. Die rechte Tür führt in die Kapelle". Wir gingen durch die rechte Tür und standen im Fuß des alten Wachturms. Die Wände waren weiß getüncht. Als einziger Schmuck war ein schwarzer Felsblock in der Mitte des Raums aufgebaut und darauf stand in angelaufenem Messing eine große runde Scheibe als Zeichen der Welt der Harmonie mit dem Stern des Nordens oben und dem Kreuz des Südens unten. Dies waren auch das Symbol für Mann und Frau im Kreis der Gemeinsamkeit.
Fontes nahm die Kette von seinem Hals und ließ die Kugeln durch die Finger gleiten. Er rief den Vater der Welt und die Mutter der Welt an und sprach mit klarer Stimme das Gebet des Friedens für alle. Als er endete, herrschte Stille in der Kapelle. Fontes erwachte aus seiner Versenkung und sah uns an.
"Ich weiß nicht, welche Götter Ihr verehrt, aber ich danke Euch für Eure Andacht". "Schluß mit der Andacht", sagte Donisl, "jetzt geht es an die Arbeit. Raffaela macht das Grobe. Schneide Dir einen Besen aus Schilf und fang an zu fegen. Der Dieb sieht nach, ob alle Türen gängig sind. Der Schmied putzt die Küchengeräte. Der Barbar holt feinen Sand vom See und bringt die Scheibe der Harmonie so zum Glänzen wie eine polierte Klinge. Der Mönch und die Gnome gehen in Franksis Zelle, und ich beaufsichtige alles. Los Leute, bewegt Euch!"

Wir waren schon lange vor Sonnenuntergang fertig. Ich stieg auf die Spitze des Turms und sah in die Wüste. So mochte auch Franksi seine Abende verbracht haben. Der Blick nach Süden zeigte kalte Steine und leblosen Sand. Weit in der Ferne war eine dunkle Anhöhe, hinter der das Gasthaus von Rok Had liegen mochte. Der Blick nach unten zeigte den tiefblauen See. Die Störche waren verschwunden, aber jetzt liefen Leute am Ufer hin und her, und an einem gelben Feuer hockten einige Gestalten.
Ich hörte den Gesang einer weiblichen Stimme und stieg hinunter.
Martina trug Franksis Lieder vor und begleitete sie mit Hilfe der beiden anderen Gnome nicht mit deutlichen Illusionen, sondern mit kleinen Lichtern und zarten Farben. Das Lied von dem Mantel der Nacht sangen Martina, Raffaela und Fontes zusammen.
Ich wickelte mich in meine Decken und schlief ein, ohne an Wachen und ähnliche nutzlose Sachen zu denken.


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(c) 1993 Holger Provos