ZWÖFTES KAPITEL

SARGON
in dem der genaue und zuverlässige Lageplan eines sagenhaften Schatzes gefunden wird.

Als die Dämmerung begann, brachten Trent d'Arby und der jüngere Gnom einen Haufen trockenes Holz, das sie in den letzten Stunden zusasmmengesucht hatten. Bald brannte ein warmes Feuer. Die Gesellschaft setzte sich in guter Stimmung zum Abendessen. Auch Loger war jetzt mit seinem Aussehen versöhnt, und der ältere Gnom neckte den Magier, indem er ihm vorschlug, noch einen Monat in der Wüste zu bleiben und sich dann an der Kamelschur zu beteiligen.

Da kam aus der Dunkelheit Fontes und hockte sich stumm zu uns. Er trank einen Schluck Wasser und kaute dann lustlos auf einem Stück Brot herum, wobei er starr in die Flammen sah. Fontes war in einer verdrießlichen Stimmung.

"Bruder Fontes", sagte Donisl. "Du hast zu lange gebetet und wahrscheinlich den ganzen Tag nichts gegessen und nichts getrunken. Entspann dich; wenn du willst, massiere ich dir die Schultern".

"Das ist es nicht. Ich habe Franksis Bücher und Schriften geordnet und das dabei gefunden". Er holte ein einzelnes Blatt Pergament aus dem Ärmel seiner Kutte.

"Ich will es euch vorlesen. Es beginnt mitten in einem Satz...Und ungeheuer Reichtümer an Gold, Silber und Juwelen warten. Auch Elfenbein und weiße Jade gibt es in Mengen. Gehe mitten auf den Platz und stelle dich vor die bronzene Statue des Sargon. Achte sehr genau darauf, wohin seine Augen blicken. Folgst du dem Blick, findest du die Wand der großen Halle. Dann wende dich nach Westen und gehe zwölf Schritte. Jetzt wirst du im Boden das finden, was ich für dich versteckt habe..."

"Zeig her", sagte Martina, " das ist Franksis Handschrift. Das ist nichts weiter als der Entwurf für ein neues Lied."
"Es hört sich aber wie eine Beschreibung an,nicht wie ein Lied", sagte Raffaela. "Wenn es nun echt ist?"
"Ach was", erwiderte Martina. "Franksi machte auch Rätsellieder und komische Gedichte. Fontes, du hast dir umsonst Sorgen gemacht!" "Aber Sargon hat es doch gegeben!" rief Fontes. "Er war ein großer König in einem mächtigen Reich. Und von der Halle, die voller Gold und Edelsteine war, gibt es doch viele Sagen".
"Fontes", sagte ich, " die Sage von Sargon ist die älteste aller Sagen, gleich nach der Sage der Erdmutter, die aus einem Schildkrötenei alle Länder schuf und den ersten Menschen gebar. Vergiß es, es ist nur einer von Franksis Scherzen."

"Wer war denn dieser Sargon?" wollte Trent d'Arby wissen."Ich kenne alle Sagen von den Kriegskönigen und ihren Kämpfen mit den Göttern und Riesen, aber den Namen Sargon habe ich noch nie gehört."

Ich lehnte mich zurück.
"Sargon war der Großkönig aller Könige. Er war der Ururenkel der Erdmutter, und die Götter waren seine Freunde. Ein mächtiger Strom durchzog sein Reich, und der Felsengott hatte für ihn einen Staudamm gebaut, der von Horizont zu Horizont reichte. So konnte Sargon die Welt bewässern, und unzählige Völker lebten unter seinem Schutz. Seine Stadt war aus weißem Marmor, das Dach seiner Halle bestand aus reinem Gold. Von überall her kamen die kleineren Könige, um ihm Geschenke zu bringen, so viele Geschenke, daß der Boden seiner Halle bald knietief mit Gold bedeckt war.
Doch bei einem Trinkgelage prahlten Sargon und seine Stadt mit ihrem Reichtum und einige spotteten über die schmutzigen Hände des Feuergotts, der das Gold schmolz. Sargon selbst lachte auch über die dicken Backen des Windgotts und darüber, daß dieser nur eine einfache Trommel aus Holz habe, um den Donner zu rufen. Er werde ihm eine Trommel aus Gold schenken. Da warf der Feuergott Feuer in die Halle, und der Windgott blies hinein. Der Palast brannte ab, und die ganze Stadt ging in Flammen auf. Der Staudamm brach, und die Fluten verwüsteten die Felder.
Der Windgott blies solange, bis Sand die verbrannte Stadt bedeckte. Sargon mußte fortan mit einer hölzernen Schale als Bettler durch die Lande ziehen, bis ihm nach eintausend Jahren vergeben werden sollte. Das ist die Sage."

"Die ist aber schaurig", sagte Raffaela.

"Aber sehr lehrreich", meinte der ältere Gnom und kratzte sich am Kopf."Und wenn wir jetzt annehmen, daß Franksi wußte, wo einst Sargons Reich lag, dann wissen wir es noch lange nicht. Und wenn die verfluchte Stadt doch gefunden werden sollte, dann ist Sargons Statue umgestürzt, und man kann die Richtung seines Blicks nicht mehr bestimmen. Oder die Halle steht nicht mehr, weil sie bis auf die Grundmauern abgebrannt und der Marmor zerfallen ist. Und wenn nicht, dann hat schon ein anderer den Schatz geborgen, oder man findet nur Teufelsgold. Das größte Unglück wäre aber sicher, den Schatz so zu finden, wie Franksi es beschrieben hat. Denn es ist zu viel für einen Menschen, und auch die Götter waren neidisch. Und auf dem Rückweg würen wir bestimmt überfallen werden, und man würde uns die Hälse durchschneiden. So soll also lieber der Wind weiter Sand über die verfluchte Stadt wehen.
Das ist die Lehre, die man aus der Geschichte ziehen sollte." Der ältere Gnom spuckte ins Feuer.
Loger pflichtete ihm bei. Das sei so ganz sicher richtig. Man könne auch ganz gut von kleineren Reichtümern leben, nämlich von denen, die ein fetter Kaufmann in den Taschen trüge, es sei vor allem auch ungefährlicher.
Fontes ging die Wahrheit dieser Worte nicht ganz auf, aber im Großen und Ganzen stimmte er Loger zu, bis auf die Frage der Moral natürlich.
Loger wollte gerade mit einer Rechtfertigungstheorie über die Umverteilung der Güter beginnen, als ich die Hand hob. Einen winzigen Augenblick später war auch der Barbar auf den Beinen. Er horchte.
"Reiter kommen", sagte ich leise. "Kannst du hören,wie viele es sind?"
Trentd'Arby stand still. "Es ist eine größere Gruppe. Mehr als fünfzig. Sie kommen aus Nordwesten."
Martina sagte: "Das können nur unsere Leute sein, aber was soll das?"
"Schnell jetzt!" befahl ich. "Räumt das Lager! Sattelt Pferde und Kamele! Du bleibst am Feuer sitzen!" Ich zeigte auf den älteren Gnom.
"Wir anderen ziehen uns hinter die Kapelle zurück. Wenn wir fliehen müssen und zerstreut werden, treffen wir uns bei der Herberge von Rock Had. Aber erst einmal warten wir auf das, was kommt. Vielleicht kannt du gleich zeigen, wie schnell deine Pfeile fliegen, Martina, und Donisl kann die dunkleren Fähigkeiten seiner Magie einsetzen."
"Auch ich habe einige dunkle Fähigkeiten", sagte Martina.
"Ha!" sagte Donisl. "Wohl Grammatik gehört beim alten Pimpardil? Das habe ich mir schon gedacht."

In weniger als zehn Minuten waren wir fertig. Am Feuer vor und saß ein einsamer alter Gnom und hielt versonnen die Teeschale in seiner Hand. Neben mir in der Dunkelheit machte Donisl Fingerübungen und besprach leise mit Martina, wie wohl der Felsen dort rechts einen Feuerspruch zurückwerfen würde. Um seine Hände lag ein kaum wahrnehmbarer rötlicher Schein.
Jetzt wurde das Hufgetrappel deutlicher. Trent d'Arby zog seinen Zweihänder. Gegen dieses scharrende Geräusch der Scheide mußte ich bei nächster Gelegenheit etwas unternehmen. Ich hörte Raffaelas angstvoll unterdrücktes Atmen und die leise beruhigende Stimme des Mönchs. Jetzt waren die Reiter da.
"Holla, das Feuer! Bist du das Kukri? Wo sind die anderen?" Es war Shandris kräftige Stimme. Kukri am Feuer stand langsam auf.
"Shandri, komm näher. Ich kann dich nicht erkennen. Ich habe zu lange in das Feuer geschaut. Die anderen sind schon gestern weiter geritten."
Aber dieses Mannöver war nicht nötig. Es war tatsächlich Shandri, hinter dem sich viele Reiter in die Senke drängten. Donisl stöhnte kurz auf, während aus seinen Fingern ein kleiner Feuerschein in den Sand flackerte. Dann rieb er sich mit verkniffenem Gesicht die Hände, wobei er irgendeinen Fluch murmelte.
"Es ist genau so, wie wenn man muß, aber nicht kann, nicht wahr, Mann!" erlaubte sich Martina eine völlig undamenhafte Entgleisung. Donisl nickte mit knirschenden Zähnen. Wir ritten aus der Dunkelheit zu dem Feuer zurück.
Shandri winkte uns zu und brüllte: "Fünf Stunden Rast, Männer. Sattelt ab und tränkt die Pferde!"
Er warf seine Zügel dem Gnom hinter sich zu, nahm seinen Helm ab uns setzte sich ans Feuer.
"Gregor aus Lahee", sagte er, "ich habe euch eine Botschaft des Fürsten auszurichten."
"Jungchen", sagte ich, "bevor du nicht Großvater geworden bist, nennst du mich höflich Onkel und setzt dich erst, wenn ich mich setzte!"
"Nun gut", grinste Shandri und blieb sitzen. "Ich werde, wenn alles gut geht, in zwei Monaten Großvater. Aber der Fürst hat befohlen, daß ich das Kommando mit dir teile. Es gibt ärgerliche Neuigkeiten."
Ärgerlich war zunächst einmal, daß wir nach Shandris Worten wahrscheinlich nur fünf kurze Stunden Schlaf bekommen würden. Ich fragte ihn, was los sei.
"Aus Westen und Osten haben unsere Posten gemeldet, daß bewaffnete Trupps durch die Wüste ziehen. Es sind d'Assels Leute. Der Fürst ist ungehalten, denn sie verscheuchen das Wild und trinken aus den Brunnen, ohne sie nachher wieder zuzudecken. Er erwägt, sie durch Trugbilder in den Sand zu locken und sie erst wieder Wasser finden zu lassen, wenn ihre Pferde tot sind und sie ihre Rüstungen fortgeworfen haben. Aber das ist eine andere Sache.
Der Fürst empfiehlt dir, dich meiner Führung anzuvertrauen und in Richtung Ber Gama zu reiten, ohne einen der bekannten Wege zu benutzen."
Ich bat Fontes, seine Karte auszurollen, und alle rückten näher zusammen. Shandri sah die Karte an und lobte sie sehr. Er zeigte mit dem Finger eine geschlängelte Linie von unserem Standort bis zu der Grenze des Reichs. Überall gute Brunnen, meinte er, kaum Geröll sondern Sand, Kies und manchmal auch Grasland.
Donisl fragte, warum Shandris Finger an dieser Stelle einen so weiten Bogen beschrieben hätte. Shandri erwiderte, dazwischen läge nur ein sehr unzuverlässiger Brunnen, der machmal nur sehr wenig Wasser führe, bestimmt jetzt nicht genug Wasser für eine halbe Hundertschaft. Donisl ließ sich die Stelle und die Landschaft darum sehr genau beschreiben und sah dann Martina an.
"Ich weiß nicht, was du kannst", sagte Martina, "und ich weiß nicht, ob ich mit euch kommen soll."
"Doch", warf Shandri ein. "Diese gewaltige Eskorte von fünfzig Reitern rechtfertigt sich nur für die Enkelin des Fürsten, die ihr Land besichtigen will. Du sollst mit uns bis zur Grenze kommen. Ich habe deinen Hengst mitgebracht."
Martina sprang freudig auf. "Donisl, wir gehen zu den Pferden. Wir haben nachher noch etwas zu besprechen."
Ich fragte Shandri, wieviel wir gewinnen würden, wenn dieser unzuverlässige Brunnen doch genug Wasser führte. Shandri meinte, mindestens zwei Tage, und unser Ritt wäre auch wegen des Geländes bequemer.
Fontes rollte die Karte zusammen und stand auf. Er bat, sich verabschieden zu dürfen. Er habe noch zwei Tage in der Kapelle zu beten und wäre trotz unseres kurzen Nachtschlafes morgen schon früher auf als wir. Shandri winkte ab. Fontes habe die Lage nicht richtig verstanden. Jeder Fremde sei ab sofort des Landes verwiesen, auch wenn der Fürst sehr bedauern würde, wenn es deshalb zu einer Verstimmung mit dem Abt des Grauen Ordens kommen sollte. Es handle sich jedoch um einen eindeutigen politischen Zwang.
"Kopf hoch, Bruder Fontes", sagte Trent d'Arby. "Dein Abt wird dir schon nicht den Kopf abreißen, und du reitest in angenehmer Gesellschaft mit soviel Schutz, daß dich nicht einmal der Teufel aus unserer Mitte holen könnte."
Fontes ließ sich überraschend schnell überzeugen. Nun kamen Martina und Donisl zurück und versicherten Shandri, der unzuverlässige Brunnen würde dank ihrer vereinten Kräfte ausnahmsweise genug Wasser auch für fünfzig oder mehr Reiter haben.


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(c) 1993 Holger Provos