FÜNFZEHNTES KAPITEL

SHOMEN
Wir lernen einen Grafen kennen und meine Messingflasche wird geleert

Heute ritt ich bei der Vorhut. Gestern Abend hatte Shandri versichert, der Landstrich vor uns sei absolut friedlich. In dieser Gegend ließen ständig zwei oder drei Gnomensippen ihre Tiere weiden und an der nächsten Wasserstelle sei bestimmt ein größeres Lager. Es sei ein wunderhübscher Ort. Ein Bach träte dort für eine längere Zeit an die Oberfläche, und in dem Tal wuchsen mindestens zwanzig oder mehr richtige Bäume.
Man stelle sich nur vor, richtige große Bäume. Da ich ein solches Wunder der Natur seit einigen Tagen nicht mehr gesehen hatte, änderte ich die Aufteilung der Truppe und ritt mit Trent d'Arby, Raffaela und zehn Gnomen voraus.
Ich wollte bei dieser Gelegenheit auch den Barbaren etwas näher kennenlernen. Trent d'Arby hatte, seitdem er bei uns war, niemanden den Schädel eingeschlagen, hatte keine Rauferei angefangen und nicht einmal Martina oder Raffaela gekniffen. Er war ein ungewöhnlich beherrschter Barbar. Vielleicht hatte man ihn als Kind zu kalt gebadet.
So horchte ich ihn während des Rittes etwas aus. Er stammte wie die meisten solcher Leute aus dem Niemandsland im Nordosten. Sein Vater war Söldner gewesen, sein Großvater, sein Urgroßvater und so weiter und so fort.

Er hatte als halbes Kind beim Tross angefangen und sich mit der Zeit bis zum Truppführer in der Reiterei hochgedient. Das war für einen seines Stammes keine ungewöhnliche Karriere. Er erzählte, daß er an den Schlachten von Allam und Torba teilgenommen hatte und zeigte stolz auf seine bronzenen Armspangen. Dies konnte einiges erklären. Denn beide Schlachten waren für das Reich schlimm und verlustreich gewesen. Dieser Feldzug mochte so den Barbaren zu seiner ungewöhnlichen Selbstdisziplin erzogen haben. Dann kam aber eine kleine Überraschung.
Trent d'Arby hatte bei Torba eine Wurfmaschine befehligt und nach den Anweisungen eines Beobachters über einen Hügel hinweg den nicht einsehbaren Feind beschossen. Das sei eine verzwickte Rechenaufgabe gewesen.
"Du kannst rechnen?" fragte ich überrascht. "Ich kann bis tausend zählen und noch weiter", sagte er stolz. "Und ich kann viele verschiedene Rechenarten". Ich war verblüfft. Trent d'Arby zeigte mir, wie man mit den Händen bis tausend rechnen kann, indem man die Finger streckt oder krümmt oder wegnimmt. Ich hätte Tafel und Kreide gebraucht.
Raffaela aber begriff das Fingerspiel, nachdem es Trent d'Arby noch einmal erklärt hatte. Auch sie hatte einen besseren Sinn für Zahlen als ich.
Trent vertraute uns an, er habe schon dreihundert Goldstücke gespart. Sobald er annähernd eintausend habe, werde er mit einigen zuverlässigen Freunden nach Süden ziehen und dort in den wilden Bergen eine kleine Burg bauen oder einen befestigten Hof. Wenn man stark genug sei, könne man sich dort so viel Land nehmen, wie man wolle. Er und seine Freunde seien sicherlich stark genug.
Er lachte und zeigte seine Muskeln, die von Raffaela angemessen bewundert wurden. Um ganz sicher zu gehen fragte ich, was er denn von den eintausend Goldstücken an Ausrüstung kaufen wolle. Er sprach nun zwar von Plattenpanzern und Schwertern, aber auch von Vieh, Werkzeug und landwirtschaftlichem Gerät.
Trent d'Arby war also ein stilles Wasser. Vielleicht ritt neben mir ein zweiter Feuerwind, ein Barbarenführer, der vor Hunderten von Jahren einmal ein Reich gegründet hatte.

Seit einiger Zeit ritten wir nun über Gras. Das Gelände senkte sich allmählich in ein Tal. Plötzlich hörten wir Glöckchenklingeln und eine kleine Ziegenherde lief vor unseren Pferden auseinander. Ein Hirte war weit und breit nicht zu sehen.
Ich ließ die Pferde in einen langsamen Schritt fallen. Der Haupttrupp sollte aufschließen können. Doch das Unglück war schon geschehen. Trent d'Arby und ich ritten über einen Hügel und da lag vor uns ein Gnomenlager mit vielen Zelten. Der Bach war da und auch die richtigen großen Bäume, und Trent d'Arby, Raffaela und ich standen auf unseren Pferden in dem Schein der Nachmittagssonne genau auf dem Kamm des Hügels über dem Lager. Man entdeckte uns beinah sofort.

Ein Arm zeigte nach oben, einige Schreie ertönten, und schon war das Lager in heller Aufregung. Ein gutes Dutzend Männer griff nach den Waffen, sprang auf umgesattelte Pferde und galoppierte uns entgegen. Hinter ihnen folgten weitere. Nach wenigen Minuten zügelte der Anführer vor uns mit harter Hand sein Pferd. In der Rechten trug der Mann wurfbereit zwei kurze Speere. Er hatte den Helm aufgesetzt, trug aber keinen Schleier.
Ich blickte in ein junges ausgesprochen hübsches Gesicht, das jetzt kampfbereit angespannt war.
"Wer seid Ihr und woher kommt Ihr?".
"Ich bin Gregor aus Lahee und das sind meine Freunde. Wir reiten unter dem Schutz des Fürsten".
" Ich bin Graf Shomen", antwortete der junge Gnom und hielt mit einerner linker Hand sein tänzelndes Pferd. Er zeigte mit den Speeren auf einen der Gnome der Vorhut hinter uns.
"He, Du da, stimmt das?"
Es war Yari der antwortete, der Speerliebhaber, dessen Pfeil ich am Barbarenbrunnen zerbrochen hatte. "Wir haben sie ein paar Meilen von hier aufgegriffen. Das mit dem Fürsten behaupten sie schon die ganze Zeit".
"Und warum habt Ihr ihnen nicht die Waffen abgenommen, verdammt noch mal? Ihr seid zu zehnt". Yari rutschte verlegen im Sattel hin und her. "Der Alte da mit dem bösen Blick hat gesagt, er will mich fressen, und da habe ich mich gefürchtet".
Trent d'Arby bekam einen Hustenanfall und die Gnome der Vorhut riefen: "Bravo Yari, das ist die Revanche". Da merkte auch der Graf, daß die Sache nicht zum Schlimmsten stand und stieg ab. Auch ich ließ mich vom Pferd gleiten. Ich stellte Raffaela und Trent d'Arby vor und der Graf verneigte sich kurz.
Während wir im Kreise seiner Leute zum Lager heruntergingen, erzählte ich unsere Geschichte in Kurzfassung. Shomen war über die Entführung entsetzt, aber daß d'Assels Leute durch die Wüste streiften, ließ ihn vollständig ungerührt. Er könne, wenn es nötig sei, in kurzer Zeit mehr als zweihundert Mann aufstellen, meinte er. Was ihn allerdings in Aufregung versetzte war die Tatsache, daß in weniger als einer Stunde die Enkelin des Fürsten in das Lager reiten würde.
Er blieb zwischen den Zelten stehen und rief seinen Leuten die Neuigkeit laut zu. Man müsse schnell alles für ein Begrüßungsfest herrichten. Er fand genug Zeit, Raffaela einer seiner Tanten anzuvertrauen, und bat uns dann, ihn zu seinem Zelt zu begleiten. Seinen beiden Leibwächtern gelang es dann schnell, ihn zu beruhigen. Auch die Enkelin des Fürsten könne in einem Weidelager nichts unmögliches erwarten. Shomen entschied sich für ein weißes Unterkleid mit goldener Schärpe, in die er einen fein gearbeiteten Dolch steckte, und für einen dunkelblauen Überwurf.
Er war gerade fertig, als Shandris Haupttrupp über dem Hügel auftauchte.
Mit einer Holzschale voll Wasser trat er Martina entgegen und sprach die förmlichen Begrüßungsworte. Dann ließ er sich von Shandri umarmen und begrüßte auch einige andere Leute, die er persönlich kannte. Er verkündete laut allen, heute Abend gäbe es ein Fest. Zufällig habe man gestern geschlachtet, um Fleisch zu räuchern. Aber einige Ziegen und Schafe könnten schon abgezweigt werden, und Martinas Ankunft sei ein freudiger Anlaß.
Er trug Martina die Ehre an, die Spieße vorzubereiten. Dabei handelt es sich, wie mir als Gastwirt bekannt war, um das berühmte Kores der Gnomen. Die Innereien, Herz, Leber und so weiter werden in kleine Stücke geschnitten und mit viel Gewürzen auf lange Spieße gesteckt und in die ausgewaschenen Därme gebunden. Für den Kenner eine Köstlichkeit. Ich sah, wie Martina die Gesichtsfarbe wechselte und griff ein. Martina habe ein Gelübde abgelegt, kein Kores zuzubereiten, bis Raffaela das Bogenschießen perfekt beherrsche. Das habe sie dem Fürsten in die Hand versprechen müssen.
Der verständnisvolle Donisl nickte bestätigend und nach einem Blick auf Martina sagte auch Shandri, genauso sei es. Martina solle mit ihrer Schülerin sofort mit dem Üben beginnen, so wie sie es jeden Abend bisher gemacht habe. Auch käme die Ehre, die Spieße vorzubereiten, dem ältesten der Gäste zu, und das sei ich.
Shomen begriff endlich und trug mir die Ehre an, die ich huldvoll annahm. Ich beorderte Fontes zu mir und trug ihm auf, mir wilde Zwiebeln und vielen wilden Knoblauch zu besorgen. Frontes fragte ein hochnäsiges Kamel, das ihn an eine alte Stute verwies. Mit der Stute besprach Fontes einiges und verschwand dann im Bachtal.
Ich ging zum Kochplatz, wo sich schon Schafe und Ziegen an den Spießen drehten. Es war eigentlich keine Arbeit, sondern ein Vergnügen. Alles war schon vorberietet. Das Fleisch war kleingeschnitten und die Gewürze lagen auf kleinen Tuchstücken geordnet bereit. Eine der Frauen bedauerte nur, es sei nicht genug Knoblauch vorhanden. Ich versicherte ihr, dem würde sofort abgeholfen, und schon erschien Fontes mit geraffter Kutte.
Er wurde freudig begrüßt und begann sofort mitzuhelfen, den Knoblauch kleinzuschneiden. Eigentlich konnte ich mich auf das Wickeln der Därme beschränken. Ein kleines Mädchen wollte wissen, warum wir aus dem Westen gekommen waren, und ich antwortete, wir seien vom Unzuverlässigen Brunnen gekommen. Dieser habe genug Wasser für fünfzig oder einhundertMann geführt.
Das war nun eine Neuigkeit. Ich zeigte auf den gewürzestreuenden Donisl und sagte, dieser große Meister der Magie habe das Unmögliche vollbracht. Donisl seufzte und gab zu, es wäre unmöglich gewesen, wären nicht das weiße und das schwarze Schaf dagewesen und das Herz im Felsen. Mehr wolle er nicht verraten.
Das war schon perfekt. Er wurde von allen Seiten bestürmt. Donisl legte einen der fertigen Spieße auf das Gestell über dem Feuer und fing an.
Sonne und Mond mußten gleichzeitig scheinen, es dürfe aber ja nicht gewittern, denn auch so sei der Zauber gefährlich genug. Man müsse die Hände genau so spreizen, aber keinen Zentimeter weniger, und dann beginne der eigentliche Spruch.
Ich hatte bisher geglaubt, daß nur die Gnomen so von Herzen schwindeln können, aber Donisl hatte eine Schar faszinierter Zuhörer und das gab ihm Auftrieb. Shandri war unter das Publikum getreten und warf ihm das Stichwort zu, es sei besonders schaurig gewesen, als der Erdgeist aus der Spalte gekommen sei und versucht habe, das Mark des Magiers auszusaugen.
Dontisl fing sofort an zu humpeln und verkündete stolz, der Erdgeist habe nur sein linkes Bein erwischt und habe auch nur ganz wenig Mark aussaugen können, als er ihn mit einem furchtbaren Fluch eintausend Klafter in den Felsen zurückgetrieben habe.
Ein Stöhnen ging durch die Zuhörer. Auch Donisl stöhnte und sagte, nach allem sei er völlig ausgetrocknet. So wurde der erste Weinschlauch geöffnet, schon bevor das Fest offiziell begann. Als Donisl die lange und aufregende Geschichte beendet hatte, waren alle Spieße auf dem Feuer und das ganze Lager war versammelt.
Nun galt es geduldig zu warten, bis das Fleisch gar war. Martina und Raffaela hatten ihre Übungen beendet und waren dazugekommen. Sättel und Decken wurden als Sitzgelegenheiten hergerichtet und mehrere Zeltdächer wurden aufgespannt.
Shandri stellte sich in die Mitte und erzählte mit lauter Stimme unsere Geschichte für alle, die sie noch nicht kannten, und berichtete die letzten Neuigkeiten von der Burg. Als er alle Fragen beantwortet hatte, war immer noch viel Zeit. Martina nahm eine Handharfe und trug die Ballade von den Zähnen des Ras vor. Das gab genug Aufregung und Gesprächsstoff für die nächste halbe Stunde.
Trent mußte den Zweihänder ziehen und den berühmten einhändigen Schlag vormachen, und es wurde wild Beifall geklatscht, als er sein Schwert so tief in den Sand schlug, daß zwei Gnome nötig waren, um es wieder herauszuziehen. Aber die Hammel, die Ziegen und die Spieße waren leider noch immer nicht durch. Da stand Yari auf und sagte, er habe ein bescheidenes kleines Lied gedichtet, als er in den letzten Tagen durch die Wüste geritten sei. Jeder Mann habe seine kleinen Eigenarten und Gewohnheiten, und wenn man jemanden lange genug beobachte, könne man schon ein brauchbares Lied daraus machen.
Er ließ sich die Handharfe geben und schlug eine flotte Melodie an. Dann kamen ein paar ganz ordentlich gereimte Verse über einen alten Griesgram mit zusammengewachsenen Augenbrauen und lauter offenbar unangenehmer Stimme. Der Mann machte mit seinen Fingern immer eine eigenartige Bewegung und saß in einer bestimmten Haltung im Sattel und drehte dabei den Kopf so und so hin und her. Ich fand die Verse nicht schlecht, aber auch wieder nicht so gut, um die Begeisterung und das Gebrüll der Zuhörer zu verstehen.
Yari mußte wegen des undisziplinierten Publikums eine kleine Pause machen, und Shandri, den das bescheidene Liedchen zu Tränen gerührt hatte, bat mich, um die Pause zu überbrücken, vor dem Feuer auf und ab zu gehen und mit einem Stöckchen gegen meine Stiefel zu schlagen. Ich tat das und die Leute gerieten wieder in Raserei. Yari hatte sich so weit erholt, um den letzten Vers zu wiederholen, und die ganze Bande sang den Refrain begeistert mit.
Nun gut, ich verstehe einen Spaß, auch wenn er auf meine Kosten geht. Ich zog meine Messingflasche heraus und bot Yari einen Versöhnungsschluck an, wobei ich ihm fairerweise sagte, das Zeug sei recht scharf. Yari hatte nun auch Tränen in den Augen und gab die Flasche seinem Nachbarn weiter, wobei er krächzte, es sei ein schön ausgereifter milder Schnaps.Als die Flasche leer zurück kam, waren auch die ersten Spieße fertig.
Es war ein sehr schönes Fest und meine Kochkünste wurden sehr gelobt. Auch Fontes hatte offenbar seine Fastenregeln vergessen, aber nicht die Pflicht zur Mildtätigkeit. Denn er sorgte dafür, daß jeder Knochen an die Hundeschar weitergegeben wurde, die um ihn herum versammelt war.


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(c) 1993 Holger Provos