SIEBZEHNTES KAPITEL

STEIN DER ERKENNTNIS
Geschenke werden ausgepackt

Wir ritten die ganze Nacht hindurch. Fontes empfahl, gegen den Durst einen Kiesel in den Mund zu stecken und daran zu lutschen. Aber wir hatten bisher jeden Tag Wasser ge- habt, und trot-z eines zunehmenden Durstgefühls litten wir nicht wirklich. Auch Pferde und Maulesel entbehrten nichts.

Die Illusion des kleinen roten Sterns verblaßte, aber es waren genug andere Sterne da, um uns den Weg zu weisen. In der Morgendämmerung kamen wir durch ein Buschland und als die Sonne aufging, begannen kleine Wälder unseren Weg zu säumen. Wir sahen weit vor uns den ersten Bauernhof auf dem Reichsgebiet.

Alle waren noch in guter Verfassung. An einem Bächlein ließ ich die Pferde tränken und die Wassersäcke neu füllen. Trent d'Arby sah nach allen Seiten. Er meinte, dieser Platz sei so gut wie jeder andere. Man sähe, daß der Bauer hier nur alle Jahre einmal hinkäme. Wir sollten rasten, jeder brauche einige Stunden Schlaf.

Wir sattelten ab. Auch Raffaela fand es jetzt selbstverständlich zuerst ihre Stute abzureiben, bevor sie ihre eigenen Decken ausbereitete. Fontes koppelte die Pferde mit sauberen Knoten an und fragte, ob jemand etwas essen wolle. Aber keiner hatte Hunger. Loger sprach einen lang anhaltenden leichten Versteckspruch in Richtung des Bauernhofs, und ich zog mir den Rest meiner Decke über die Augen und schlief sofort ein.

Ein würziger Geruch weckte mich. Fontes saß vor einem kleinen rauchlosen Feuer und rührte in einem Topf. Die Sonne stand kurz vor Mittag.

"Ich habe eine frische Suppe gekocht", sagte Fontes. "Kräuter wachsen hier genug". Er schmeckte ab. "Soll ich noch etwas Waldmeister hineintun?" Ich räkelte mich und kroch aus meinen Decken. Von Waldmeister in der Suppe hatte ich noch nie etwas gehört. Fontes reichte mir einen Löffel. Die Suppe schmeckte eigenartig scharf, aber gut. "Wo hast Du das gelernt, Fontes?" "Ich bin doch Mönch auf Wanderschaft", sagte Fontes. "Da muß man öfter mal etwas ausprobieren, sonst werden die Fastenregeln fade".

Der Geruch der Suppe zog über die Schläfer und weckte sie und hier und da regte sich eine Gestalt in den Decken. Trent d'Arby sah zum Bauernhof und beobachtete die Umgebung. Um uns herum rührte sich nichts. "Du kannst Dich waschen gehen, Raffi", sagte er. "Wir sindhier sicher".

Von Fontes' Suppe blieb nichts übrig und Trent d'Arby wischte den Topf noch mit einem Stück Brot aus. Dann hielten wir wieder Kriegsrat, heute allerdings in kleinem Kreis.

Bis Ber Gama waren es noch zwei Tagesritte, falls wir das Tempo durchhalten konnten, das Shandri in der Wüste als bequeme Reisegeschwindigkeit bezeichnet hatte. Wir würden auf der Straße reiten.

d'Assels Leute konnten hier im Reich keinen Aufruhr veran- stalten, und Trent d'Arby war sich sicher, daß er einen oder zwei einzelne Attentäter wie Läuse zerdrücken werde. An unseren Personen war an sich nichts auffälliges. Einzig Logers Maultier paßte nicht mehr ganz iu seiner neuen Vornehmheit. Also beschlossen wir, er müsse sich bei Gelegenheit ein ansehnlicheres Reittier zulegen.

Als die Pferde gesattelt und alle zum Aufbruch bereit waren, bat ich noch für einen kleinen Augenblick um'Aufmerksamkeit. Ich holte das Paket, das Shandri mir mitgegeben hatte, und sagte, der Fürst habe uns ein Abschiedsgeschenk mitgegeben. Ich band die Schnur von dem Bündel und rollte es im Gras aus. Die Gesellschaft hielt den Atem an.

Es waren die Zähne des Ras. Vor uns lagen vier kostbare Dolche. Die Zähne des Königs der Wüste waren zu Dolchgriffen verarbeitet worden. Es waren zwei große kräftige Dolche und zwei kleinere. Die Scheiden waren jeweils aus dunklem, kleingepunkteten Leder. Der Abschluß war in einem dunklen Gold gearbeitet, und dunkles Gold verband auch den Griff mit der Klinge.

"Halt!", sagte Donisl. "So etwas kann man nicht in drei oder dreieinhalb Tagen arbeiten. Faßt nichts an. Die Dolche wurden durch Zauberei gemacht".

Ich griff ruhig zu einem der kleineren Dolche und hielt ihn Donisl hin. Das Gold war in feinen verschlungenen Runen gearbeitet, die sich ineinander verwoben und sich von der Scheide zum Griffstück fortsetzten.

"Donisl", sagte ich, "man kann das Geschenk anfassen und man kann es wieder loslassen, genauso wie man es will. Es kann nichts Böses daran sein".

Donisl griff zögernd mit der linken Hand zu dem Dolch, wobei er die Finger der rechten zu einer Beschwörung formte. Er hielt den Dolch kurze Zeit fest und legte ihn dann wieder vorsichtig auf das Tuch. Dieses schimmerte, so unscheinbar es von außen war, innen wie dunkelgrüne Seide, gemustert wie das Gras, auf dem es lag.

Donisl nahm den Dolch wieder auf. "Ich kann ihn anfassen und wieder loslassen. Die Finger verkrampfen sich nicht. Also kann keine schwarze Magie daran sein".

Ich reichte dem Barbaren einen der großen Dolche, dessen Verzierung aus Pfeilspitzen und Trophäen bestand. Für den Dieb war ein zweiter großer Dolch da, um dessen Griff und Scheide sich goldene Schlangen ringelten.

Fontes griff nach dem verbliebenen kleinen Dolch. Auf der Scheidenmündung und am unteren Teil des Griffes lieferten sich Hund und Affe, Pferd und Hase, Hahn und Ratte und weiteres Getier eine lustige Verfolgungsjagd mit einem Drachen.

Fontes zog den Dolch aus der Scheide. Über die gedunkelte Klinge mit verdeckter Spitze kräuselten sich silberfein Muster helleren Stahls. Fontes zog den linken Ärmel seiner Kutte hoch und fuhr mit flach angesetzter Klinge leicht über seinen Unterarm. Dann blies er zufrieden ein Häufchen blonder Haare vom Metall.

"So einen Dolch habe ich mir immer gewünscht. Ein wirklich nützliches Geschenk".

Loger zog seinen Dolch heraus. Die stärkere Klinge war ebenso gearbeitet, wie die des Mönchs. Ihr leichter Schwung war der Gegenschwung zu der Krümmung des Griffs.

"Ein nützliches Geschenk?" rief Loger. "So ein Dolch kostet ein Vermögen. Ich weiß einen Hehler in Ber Gama, der mir dafür ohne Handeln eintausend zahlen wurde".

"Tu, was Du nicht lassen kannst", sagte Fontes, "da ist noch etwas".

Auf dem unter den Strahlen der Mittagssonne nun hellgolden schimmernden Tuch lag ein Päckchen aus weißer Seide. Ich warf es Raffaela in den Schoß. Sie band es vorsichtig auf. Es enthielt einen kleinen Halsschmuck, den Raffaela jetzt von ihrem Finger baumeln ließ.

An einem hauchdünnen Kettchen hing in einer schlichten flachen Fassung ein halbrund geschliffener Stein. Er war von einem nicht ganz durchsichtigen hellen Grün. Wie er sich drehte, schimmerte in den Strahlen der Mittagssonne ein goldener Stern in der Mitte auf und verlosch wieder, als der Stein sich weiter drehte.

Donisl schlug die Hände vor die Augen. "Raffi", sagte er, "wenn Du durch den Stein siehst, dann denk nicht allzu schlecht von mir".

Raffaela sah ihn verständnislos an. "Sieh durch den Stein, Kind", sagte ich. "Fürchte Dich nicht".

Raffaela hielt den Stein vor ein Auge. Nach einem kurzen Schweigen nahm ihn Raffaela wieder herunter.

"Ich sehe jeden so, wie er ist. Halb gut, halb böse. Nur Fontes ist fast ganz gut, aber er sollte doch lieber Barde werden".

Raffaela hängte sich das Kettchen um den Hals. "Ihr seid alle meine Freunde. Und ich werde dafür sorgen, daß die Belohnung hoch genug ausfällt, Donisl!"

"Raffaela", sagte ich, "Du bist weiser als Fontes. Laßt uns aufbrechen".

Ich steckte das leere Tuch unter den Gürtel und wir saßen auf.


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(c) 1993 Holger Provos