ZWANZIGSTES KAPITEL

ALEXANDER
Wir lernen einen ausgesprochen netten und wohlgeratenen jungen Mann kennen und später auch den Kanzler
Mit flotten Schritten ging ich die Straße an der Kasernenmauer entlang, bis zu dem ersten Tor. Die beiden Wachen schlugen die Hand so kräftig vor die Brust, daß ich dachte, ihre Brustpanzer bekämen Beulen.

"Das sind die braven Wachsoldaten, liebe Nichte. Sie müssen vier Stunden hier stehen, bis sie abgelöst werden. Nicht wahr, Männer?" "Jawohl, Herr Oberst!" brüllten die beiden.

"Und das ist die Wachstube und da drüben ist das Offiziersheim. Dort findet immer der Herbstball statt".

Wir gingen weiter. Da drüben lagen die Unterkünfte der Bogen-schützen, dort die der Garde und dann kamen die Stallungen. Dahinter hörte ich laute Kommandos.

Als wir an den Ställen vorbeikamen, sah ich ein eigenartiges Bild. Ein Zug Gardisten mußte strafexerzieren. Die armen Kerle mußten etwas Schlimmes ausgefressen haben, denn sie marschierten in Paradeuniform. Auf dem Kopf hatten sie den schweren silbernen Helm mit dem langen Roßschweif, auf Schultern und Brust den berühmten, vom Künstler Lonardo entworfenen unbequemen Panzer, und in der Hand trugen sie die Paradelanze, die mindestens zwölf Pfund wog.

Wenigstens teilte ihr Hauptmann ihr Leid, denn auch er trug die Paradeuniform und den schweren Zweihänder auf die Schulter gelegt.

Mich stach der Hafer. Mit wippenden Schritten ging ich auf den Gardezug zu. In fünf Metern Entfernung blieb ich stehen und brüllte: "Der erste Mann im zweiten Glied. Mann, du trägst keinen Kerzenleuchter, sondern eine Lanze!" Der Mann korrigierte seine Haltung und marschierte schwitzend weiter. Der Hauptmann trat drei Schritte auf mich zu und grüßte zackig.

"Papa", flüsterte er, "Du benimmst Dich wieder unmöglich".

Ich klopfte ihm wohlwollend mit dem Kommadostab auf die Wangen.

"Laßt unterbrechen, Hauptmann!" "Jawohl, Herr Oberst".

Er drehte sich um und rief: "Aufpassen Garde, und Halt und Stehen!" Die Gardisten kamen klirrend zum Halt.

"Bequem stehen!". Die Gardisten standen bequem. "Bitte kommt mit, Hauptmann", sagte ich. "Fräulein Kommer, darf ich Euch Hauptmann Alexander vorstellen".

Raffaela nickte hoheitsvoll und Hauptmann Alexander machte eine kurze Verbeugung.

"Hauptmann", sagte ich, "Es ist eine politische Angelegenheit und ich nehme sie auf meine Kappe. Wir müssen zum Kanzler. Nicht in einer Stunde, nicht in einer halben Stunde, sondern sofort und direkt. Und jemand möchte das vielleicht verhindern".

"Die Paradenummer?" fragte der Hauptmann und ich nickte. Der Hauptmann trat vor seine Abteilung. "Neue Befehle. Wir marschieren als Deckung des Herrn Oberst direkt bis vor die Tür des Kanzlers. Wenn es nicht klappt, exerzieren wir bis morgen früh weiter. Wenn es klappt, verspricht euch der Herr Oberst für morgen dienstfrei, fünf Fässer Bier und drei Ferkel am Spieß".

Diesen Hang, den eigenen Beutel zu schonen, hat Alexander nicht von mir und seiner Mutter, sondern von seinem Großvater.

Die Gardisten reihten sich auf und nahmen uns in die Mitte. "Aufrücken!" befahl der Hauptmann. "Lanze heben!". "Lanze senken", sagte Raffaela. "Halt den Mund", sagte ich, "soweit ist es noch nicht".

Wir marschierten klirrend los. Wir kamen an der Zahlmeisterei und an der Waffenkammer vorbei. Vor uns ragte die Mauer der Burg auf.

"Und eins und zwei, und Haltung, Leute!" brüllte Hauptmann Alexander.

Die Wachen am Tor sahen starr geradeaus, als der Zug vorüber-stampfte. Der Gleichschritt wurde auch auf der Treppe nach oben nicht unterbrochen. Auf dem Mosaikfußboden der Audienzhalle hallte er sogar besonders schön.

Ein Lackaffe in gelb-schwarz-gestreiftem Seidengewand sprang auf und versuchte, sich uns in den Weg zu stellen.

"Ich bin der Botschafter des Herzogs", kreischte er. "Ich bin der nächste, vorgelassen zu werden".

Der Flügelmann trat ihm genußvoll auf den Fuß. Wir standen vor der hohen Holztür des Arbeitszimmers des Kanzlers. Die Brustplatten unserer Gardisten druckten die Türwachen gegen die Wand. ich steckte den Kommandostab unter mein Hemd und Hauptmann Alexander drückte die Tür auf. Wir drängten in einem wilden Haufen hinein.

Hinter dem Schreibtisch blickte Kanzler Kommer sorgenvoll von einem Pergament auf: "Was soll das?" fragte er in die Menge hinein.

"Weiß nicht", antwortete ein Gardist.

Mein Kindergarten aber hatte sich, wohl als ich mit Marion im Keller war, etwas besonders schönes ausgedacht.

"Fräulein Raffaela Kommer!" brüllte Trent d'Arby, daß die Scheiben klirrten. Der weise Fontes warf eine Handvoll Silberstaub in die Luft und Donisl sprach einen Spruch. Es gab einen furchtbaren Knall, und aus einer Rauchwolke lief Raffaela nach vorne und schluchzte: "Papi, Papi".

Es war ein rührendes Wiedersehen. Kanzler Kommer mußte unter einer furchtbaren Anspannung gestanden haben, denn er brach fast zusammen. Hauptmann Alexander zeigte Verständnis, denn er drängte die Gardisten nach draußen.

Als ich ihn rufen hörte: "Wen sollen wir hier verhaften, Herr Oberst?" wußte ich, daß auch die Audienzhalle leer war. Ich ließ die Schärpe in meiner Tasche verschwinden und rollte den Mantel zusammen.

Raffaela bewies, daß nur eine Frau eine Geschichte logisch und kurz gefaßt erzählen kann: "Das sind meine Freunde", sagte sie. "Und d'Assel hat sich geschnitten".


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(c) 1993 Holger Provos