SECHSUNDZWAZIGSTES KAPITEL

Wir campierten auf einer Wiese am Rande des Tals. Morgen mittag würden wir den Strymon erreichen. Pferde und Maultiere grasten friedlich an langen Leinen und in der Mitte des Lagerplatzes flackerte ein kleines Feuer. Am Rande des Feuerscheins saß Fontes unter einem Baum und spielte. Als wir das Lager einrichteten, hatte Fontes zielsicher in ein Gebüsch gegriffen und einen kleinen Luchs hervorgeholt. Auf Fontes' Maunzen folgte auf tapsigen Beinen ein zweites Luchskind auf die Wiese. Die verzweifelte Luchsmutter war auf den Baum geklettert und beobachtete ihre entführten Jungen mit steil aufgerichteten Ohren und weit aufgerissenen Augen. Die kleinen Luchse spielten in Fontes Kutte Verstecken und Kriegen und Fontes half eifrig mit, indem er dem einen, oder anderen bei passender Gelegenheit einen Fluchtweg in einen seiner weiten Ärmel ermöglichte. Der Kopf der Luchsmutter sank immer tiefer. Jetzt hockte ein Luchskind schwankend auf Fontes Knie und fauchte ihn mit gesträubtem Fell an. Fontes fauchte mutig zurück. Der Kopf der Luchsmutter sank auf ihre Pfoten und ihre Augen schlossen sich zu kleinen Schlitzen. Frau Luchs hatte sich ein endgültiges Urteil über den Mönch gebildet.

Am Feuer kaute der Barbar noch auf beiden Backen und Loger warf den klingenlosen Heft seines Schwertes von einer Hand in die andere. "Wann wird der Wolf wieder zurückkehren?" fragte er in das Feuer hinein. Donisl rückte mit einem Stock die brennenden Hölzer näher zusammen und legte nach. "Nicht zu unseren Lebzeiten und auch nicht zu den Lebzeiten unserer Kinder und Enkel", antwortete er. "Als der Wolf den Finger der Götter auf sich zukommen sah, floh er in blinder Angst. Er flieht noch immer, ob an das Ende der Welt, ob in die tiefste Hölle oder hoch zu den Sternen, das weiß er selbst nicht. Denn sein Gehirn ist voller Traumstaub. Wenn er nach hundert Jahren innehält, wird er nicht wissen, wo er ist, und tausend Dämonen werden in seinem Kopf hämmern. Um seinen Kater auszuschwitzen, braucht er vielleicht noch einmal hundert Jahre. Und dann wird er den Weg zurück vergessen haben. Ich glaube, in unser Land findet er niemals wieder." Ein Holzscheit krachte im Feuer. Die kleinen Luchse, die sich gerade vor Fontes.Füßen balgten, schreckten auf und verschwanden im Gebüsch. Die Luchsmutter hastete vom Baum herunter, und Fontes war wieder allein.

Er stand auf und kam auf das Feuer zu, wobei er mißtrauisch an dem einen Ärmel seiner Kutte roch. Er habe eine Idee, verkündete Fontes stolz. Er verstehe den Schmerz des Barbaren, daß er sich vor niemanden seiner tapferen Tat rühmen könne. Alle hier am Feuer wüßten natürlich, wie mutig er sei. Aber dauernd vor dem Rest der Welt zu schweigen, sei bitter. Deshalb solle er, wo er doch jetzt Freiherr werde, einen Wolfskopf in sein Wappen aufnehmen. Und wenn eines Tages seine Kinder ihn fragten, warum der Wolf auf seinem Banner sei, dann könne er ihnen die schöne Geschichte erzählen. Trent d'Arby schüttelte unwillig den Kopf.

"Doch", sagte ich. "Das ist ein guter Einfall. Wir verdanken dem Wolf sehr viel und sollten ihn deshalb ehren." "Was verdanken wir dieser Ausgeburt des Bösen", sagte Trent d'Arby, "außer der Tatsache, daß wir alle ein Stück älter geworden sind, weil wir dem Tod ins Auge gesehen haben?" "Wir verdanken ihm zum Beispiel", erwiderte ich, "daß ein 1ange unbesiedeltes Land vor uns liegt. Kein Besiedelungsversuch ist bisher gelungen, weil die Kräfte des Bösen hier offensichtlich seit langer Zeit geherrscht und die Siedler immer wieder vertrieben haben. Nun ist der Weg für uns frei. Ich sehe es schon vor mir. Der ängstliche Svenrho wird, sobald ihn seine Geschäftspartner eingeweiht haben, gegen gutes Gold den Bergbewohnern Stück für Stück neue Weiden am Südhang mit zauberkräftigen Schutzkreisen erschließen. Der ehrbare Donisl muß sich selbstverständlich zuerst zieren und ablehnen. Aber wenn die ersten Händler zu unserer neuen Stadt reisen wollen, dann wird er nachgeben und ihnen einen garantiert geisterfreien Weg in das Tal verraten." "Ich dachte an ein Zehntel des Warenwerts", räumte Donisl ein. "Ich sehe, wie der Fontes die Stirn runzelt, aber es ist notwendig. Das Böse hat zu lange über dieses Tal geherrscht, als daß irgend jemand glauben könnte, es sei schon vertrieben. Aber man wird an meine Magie glauben, besonders wenn man sie teuer bezahlen muß. Erst wenn die Händler Gold hergegeben haben, werden sie beruhigt sein. Ich kann es einfach nicht ablehnen. Ich glaube, ich werde Amulette mit einem Wolfskopf darauf verkaufen." Donisl warf begeistert die Arme hoch, seine Finger spritzten Funken, und er zeichnete mit einem knisternden Licht einen Tierkopf in die Luft. "Sieht wie ein Schwein aus", sagte Loger trocken und Martina begann zu lachen. Donisl wischte beleidigt seine Zeichnung aus und forderte von Fontes ein Stück Pergament. Fontes lehnte dies aber als Verschwendung ab, war aber andererseits begierig, uns seine überlegenen Zeichenkünste zu beweisen. So bat er den Barbaren, am Waldrand nach einem geeigneten Baumstumpf zu suchen, und ein paar dünne Holzscheiben abzuschlagen. Trent d'Arby und Fontes standen auf, und weil jetzt jeder sein Talent beweisen wollte, kamen alle bis auf den für körperliche Arbeiten zu vornehmen Magier mit.

Nach ein paar Schritten fanden wir eine von den Frühlingsstürmen geknickte junge Linde und Trent d'Arby zog sein Schwert. Ein Schlag trennte die geknickte Krone des Baumes ab, ein zweiter Schlag den zersplitterten Teil des Stammes. Martina klatschte Beifall und Trent d'Arby fühlte sich gefordert. Mit Vorhand und Rückhand schlug er Schindeln. Als auch Loger Beifälliges äußerte, zeigte der Barbar die beidhändige Acht über dem Kopf und machte hintereinander vier blitzschnelle saubere Schläge. Dann griff sich jeder ein paar Holzscheiben und wir kehrten zum Feuer zurück. Trent d'Arby warf Donisl ein paar Schindeln zu und begann, seine Klinge zu säubern. Alles zeichnete mit aus der Feuerstelle gegriffenen Kohlenstückchen. Ich gab nach einiger Zeit meine Bemühungen auf. Mit schlechtem Material kann man halt nichts ordentliches zustandebringen. Als ich mein Holztäfelchen in das Feuer warf, grinste Donisl boshaft und zeichnete eifrig weiter. Dann steckte auch Loger auf und überantwortete sein Werk den Flammen, bevor ein kritisches Auge darauf fallen konnte. Fontes zeichnete mit verrissenem Ernst und Martina schloß ab und zu die Augen und zog mit der Hand Linien durch die Luft. Als Trent d'Arby begann, hinter dem Rücken der Künstler auf und ab zu gehen, um einen Blick auf die Zeichnungen zu werfen, murmelte Donisl etwas über dummen Kinderkram und stand auf. Jetzt waren nur noch Fontes und Martina im Rennen. Der Mönch war als erster fertig. Er reichte Trent d'Arby sein Brettchen und der Barbar pfiff anerkennend. Wir drängten uns zusammen. Trent d'Arby hielt die Schindel näher an den Schein des Feuers, so daß jeder sehen konnte. Fontes hatte einen Schildschmuck entworfen. Wir blickten in die bösen Augen und den aufgerissenen Rachen des Wolfs. Die Zeichnung war beeindruckend lebensecht. Fontes hatte den Augenblick eingefangen. in dem der Wolf vor dem Sprung brüllte. Auf den Schild gemalt, wurde dieses Bild ein kaltes Grauen in Trent d'Arbys Gegnern erwecken. Alles waren des Lobes voll und Fontes erklärte, welche Farben er sich für den Untergrund und für die Wolfsfratze vor-stellte. Trent d'Arby meinte hingerissen, es würde das feinste Wappenschild im ganzen Reich werden, und Fontes errötete vor Freude. Sein Vorschlag war in Ehren angenommen. Nun zeigte Martina ihre Tafel. Die Runde schwieg. Martina hatte in wenigen Strichen den schlichten Umriß eines laufenden Wolfs auf das Holz gezeichnet. Durch einige dicke Linien waren Kopf und Schultern betont. Die Ohren waren simple Dreiecke und der Schwanz nur ein doppelter geschwungener Strich. Keiner sagte etwas und Martina schaute enttäuscht. Da hob Donisl die Hände und streckte sie murmelnd gegen das Bild. Der laufende Wolf vergrößerte sich und hob sich in die Luft. Wind kam auf und über uns flatterte knallend ein hellrotes Banner. Der Wolf war, wie ihn Martina gezeichnet hatte, in schwarzen Strichen auf dem Banner und lief. Der Wind pfiff und heulte. Der Wolf streckte sich und stürmte in langen Sprüngen nach vorne. Trent d'Arby riß sein Schwert aus der Scheide, schwang es über dem Kopf und brüllte vor Begeisterung, und die ganze Bande schrie mit. Martina war der große Wurf gelungen. Sie strahlte und machte die übermütigen Bewegungen eines Fahnenschwenkers und der Wolf in dem Banner über uns wirbelte mit.

Wir lagerten am Fluß. Martina hatte sich hartnäckig geweigert, dieses gräßlich tiefe und reißende Wasser zu durchschwimmen und auf dem Bau eines Floßes bestanden. Trent d'Arby hatte gelacht und sich bis auf das Lendentuch entkleidet. Er war in das Wasser gesprungen, durch den friedlich dahinziehenden Strom an das andere Ufer geschwommen und winkte jetzt zu uns herüber. Aber Martina war nicht zu bewegen. Donisl stimmte ihr zu. Schwimmen sei etwas für die Pferde und für das gemeine Volk, nicht aber für Leute von Stand. Ich sah, wie Loger hinter den Magier schlich und sich duckte, und wie Fontes mit glitzernden Augen unauffällig nach vorne trat. Ich konnte gerade noch diesen gemeinen Anschlag verhindern. Aber die jungen Hunde wollten toben. Als ich von ernsthafter Pflichterfüllung sprach, lag Fontes Kutte schon im Gras. Als ich Sargons glänzende Schätze beschrieb und mit lauter Stimme die Gefahr heraufbeschwor, jemand anders könne uns auch nur um einen Tag zuvorkommen, waren Fontes, Loger und Donisl schon im Wasser und schrien und spritzten. Trent d'Arby kam vom anderen Ufer herüber geschwommen und tauchte prustend zwischen den Dreien auf. Sie versuchten, ihn mit vereinten Kräften zu tauchen, aber der Barbar erhob sich wie ein mächtiger Wassermann und warf einen nach dem anderen im hohen Bogen in die grüne Flut. Martina schlich sich davon und bald schwamm sie ein Stück weiter flußaufwärts langsam am Ufer entlang. Donisl sah sie und wollte heranschwimmen, aber Martina zischte wie eine Schlange, und plötzlich kochte das Wasser zwischen ihr und den anderen. Sie erbarmte sich schließlich nur so weit, daß sie den jungen Herren die Illusion eines Schwarms von Nixen gönnte, die auf einmal mit langen grünen Haaren und silbernen Schwänzen um Trent d'Arby herumtanzten. Fontes bedeckte die Augen mit den Händen. Der Barbar und Loger versuchten mit Gebrüll, jeder eine der Nixen zu fangen und Donisl schüttelte sich vor Lachen.

Alles war in bester Ordnung. Ich ging zu den Pferden und nahm meinen Bogen und den Köcher vom Sattel. Dann wanderte ich ein Stück flußaufwärts, bis das Geschrei der Gesellschaft nur noch schwach zu mir herüberklang. Ich suchte das Ufer ab. Da war schon ein unterspülter Baum, dessen Wurzeln nur noch zur Hälfte im Boden staken. Darunter war ein Kreis stillen Wassers. Ich zog zwei Fischpfeile aus meinem Köcher und legte nach Martinas Art einen auf die Sehne. Dann wartete ich, den Fuß über dem Wasser auf eine freigespülte Wurzel gestutzt. Im Wald war kein Geräusch zu hören. Die Mittagssonne schien warm auf den Fluß. Ein Libellenpärchen stand keine zwei Schritt neben mir über einem Schilfbusch. Dann sah ich unter mir einen silbernen Schatten. Eine unterarm lange Forelle schwamm in die kleine Bucht. Ich spannte den Bogen, hielt eine Handspanne vor, und der Pfeil schlug in das Wasser. Die Forelle zuckte zusammen und trieb mit dem Pfeil auf. Ich angelte meine Beute mit dem Ende des Bogens, tötete die Forelle mit einem Schlag und wartete wieder. Nach einer Stunde hatte ich vier stattliche Fische, band sie mit einem dicken Schilfhalm zusammen und ging zurück. Die Bande hatte sich ausgetobt. Die Pferde waren abgesattelt und weideten verstreut am Flußufer. Logers Hengst Baran zeigte mehr Verantwortungsgefühl als wir Menschen, denn er stand auf einem kleinen Hügel und bewachte die Herde. Trent d'Arby, Loger und Donisl hatten treibende Stämme und dicke Äste eingefangen und banden schlecht und recht ein Floß zusammen. Martina saß in der Sonne und kämmte sich die Haare, während Fontes an einem Feuer hockte und einen Stock drehte, an dem zwei kümmerliche Fischlein aufgespießt waren. Als ich meinen Fang neben ihn legte, strahlte er und begann sofort, die Fische auszunehmen und einzusalzen. Ich bat ihn um seine Karte und Fontes zeigte auf seine Satteltaschen.

Während die Fische brieten, studierte ich die Karte und fand schnell unseren Standort. Wir waren vom Bergweg aus genau nach Süden geritten. Der Strymon floß in breiten Windungen nach Osten, bis er nach drei Tagen das Großmeer erreichte. Dieses Meer spukte schon seit Monaten in meinem Kopf herum. Ein kleiner stiller Handelsverkehr mit dem Ostreich war nämlich für einen Bewohner der Westküste ein faszinierender Gedanke. Doch nur in ihren Träumen hatten unsere Händler bisher das sagenhafte Kap umschifft, das zwischen den Meeren lag. Am Kap herrschte nämlich ewiger Sturm, der Masten wie trockene Reiser knickte. Und wer den Stürmen entkam, sah sich der neunköpfigen Schlange gegenüber, die Schiffe und Männer verschlang. In Lahee lebte ein Seemann, der einst zu Josuas tollkühner Mannschaft gehört hatte. Josua hatte das Kap bereits umschifft, als die Schlange aus dem Meer auftauchte und sein Schiff anfiel. Einer der Köpfe hatte den Mast abgebissen und eine herabfallende Stänge hatte den Arm unseres Landsmanns zerquetscht. Er fand sich mehr tot als lebendig und blutend an einem steinigen Strand wieder. Die beiden anderen Überlebenden der Reise hatten ihn rührend versorgt, den Arm geschient und ihn zwei Wochen durch die Wildnis geschleppt, bis ein Fischer den armseligen Rest von Josuas einst so stolzer Mannschaft von der Küste aufgesammelt und nach Hause gebracht hatte. Der Weg um das Kap war also aussichtslos. Wer heute den stolzen Beruf eines Freihändlers ausüben wollte, mußte sich nachts mit wenigen Pferden oder Kamelen über die Grenze schleichen, und der Gewinn war mager. Von hier aus boten sich aber unvergleichlich bessere Möglichkeiten. Doch die Flußmündung war zerfranst wie eine alte Decke und der Karte nach flach und sumpfig. Eine Tagesreise von unserem Standort aus sah es allerdings vielversprechend aus. Nach einer scharfen Kehre gabelte sich der Fluß. Auf unserer Seite war eine Klippe eingezeichnet, vielleicht ein guter Bauplatz für eine erste Burg, und auf der anderen Seite war als Landmarke eine Jahrhunderteiche auf der Karte eingetragen. Wenn wir aus der Wüste zurückkehrten, mußten wir diesen Landstrich als ersten erkunden.

Ich rollte die Karte wieder zusammen, denn Fontes rief zum Essen. Er hatte die Fische auf großen Blättern gerichtet und während Martina zierlich wie eine Katze mit spitzen Fingern und einem Messer aß, nahm Trent d'Arby seinen Fisch mit beiden Händen und biß auf einmal den knusprig gebratenen Schwanz ab. Während des Essens sah ich auf das Wasser und meinte, noch einen glitzernden Schwanzschlag einer Nixe zu sehen, die Martina so lebensecht vorgegaukelt hatte.


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(c) 1993 Holger Provos