Der Abschied am nächsten Morgen drohte sich in die
Länge zu ziehen. Jeder bedankte sich bei jedem. Der
Magier dankte mit schönen Worten allen für seine
Rettung, der Mönch mit aufrichtigen Worten dem Dieb und
mir für Begleitung und Schutz, der Dieb dem Mönch für
den erwiesenen Gefallen und dem Magier für wertvolle
Belehrung.
Schließlich ritten wir auseinander, nachdem Loger mir
ernst versichert hatte, er werde an sein Versprechen
denken und in genau einem Monat an der Höhle am Paß
sein.
Nun ritt jeder allein seines Weges. Nur Fontes hatte
sich eine neue bewaffnete Eskorte gesichert. Der Barbar
von gestern Abend wollte auf seinem Ritt nach Süden den
Rand der Wüste streifen und Fontes bis dahin begleiten.
So lenkte der Barbar seinen kräftigen Hengst zum
südlichen Tor, und der Maulesel des Mönchs trabte
hinterdrein.
Ich wandte mein Pferd wieder gen Osten. Dort hatte ein
alter Freund seinen Turm, dort hielten ihn seine
Studien fest, und wir hatten uns seit einem Jahr nicht
mehr gesehen. Dieser Tag war so schön wie der gestrige,
und als meine Stute auf der anderen Seite des Tals von
Mar sa La die Hügel hinauftrabte, schien mir die Sonne
wieder ins Gesicht. Ich dachte über den gestrigen Abend
nach. Die wenigen Worte, die ich von den Lippen des
Handelsherrn gelesen hatte, lauteten: "Die Ware ist
sehr kostbar. Schicke morgen genau zur Mittagsstunde
zwei zuverlässige Leute zum Gespießten Baum. Sie sollen
sich mit diesem Amulett ausweisen, die Ware übernehmen
und weiterleiten".
Mit dem Gespießten Baum hatte es folgende Bewandnis:
Vor vierzig oder fünfzig Jahren hatte eine größere
Räuberbande versucht, Mar sa La zu plündern, wie man
munkelte im Auftrag irgendeines minderen Herzogs. Bei
dem gut organisierten Widerstand der Stadt
holten sich die Kerle blutige Köpfe. Sie wurden von der
Stadtgarde und einer Horde empörter Karawanenreiter
gejagt, bis man den Rest der Bande irgendwo am Beginn
des Berglandes stellte. Wegen des politischen
Hintergrundes gab es kein abschließendes Gemetzel,
sondern es wurden unversehens und zum Zorn der
Karawanenleute Verhandlungen geführt. Eine
Entschädigung wurde bar gezahlt, und die verbliebenen
Räuber durften abziehen und sogar Pferde und Nahwaffen
behalten.
Lediglich ihre Speere mußten sie abliefern. Die Räuber
taten dies, indem sie hohnlachend die Speere einer nach
dem anderen in eine mächtige Platane warfen. Dann
rückten sie ab.
Die Geschichte hatte einen romantischen Beigeschmack
und wurde bei wiederholtem Erzählen immer farbiger.
Bald war der Gespießte Baum ein beliebtes Ziel für
Sonntagsausflüge. Der geschäftstüchtige Priester eines
kleinen Kriegsgotts baute neben der Platane ein
Tempelchen und hielt das Geschäft einige Zeit in
Schwung. Dann aber begann die mißhandelte Platane zu
rotten, die Speere rosteten und brachen ab, und die
Ausflügler blieben allmählich aus. Bei den meisten
Leuten gerieten der Ort und seine Geschichte in
Vergessenheit.
Ich brauchte nur eine halbe Stunde Umweg auf dem
Kammweg, um von den Hügeln auf den Gespießten Baum zu
sehen. Und weil mich nichts auf dieser Welt zur Eile
trieb, nahm ich nach der nächsten Abzweigung den Weg
nach Südosten.
Fast genau zur Mittagszeit lagen die Reste des Tempels
unter mir. Aus seiner Richtung zog ein einsamer Reiter
nach Mar sa La,
und nach einigen Minuten kam aus dem Schatten des
Tempels das saubere Pärchen Loger und Donisl, die ein
drittes Pferd am Zügel führten. Darauf saß eine
verhüllte Gestalt im Damensitz. Der Vorgang selbst war
nicht überraschend. Loger mußte nach neun Tagen
freiwilligen Berufsverbots schon Krämpfe bekommen
haben. Überraschend war nur, daß der vornehme Herr Kauz
nun sein Geschäftspartner war. Ich hätte gerne gewußt,
was sich die beiden da ergaunert hatten. So, als sei
ich selbst mit von der Partie, sicherte ich nach allen
Seiten. Von meinem erhöhten Standpunkt aus hatte ich
einen weiten Blick. Wahrhaftig, aus Richtung der Stadt
nahte eine dicke Staubwolke. Es mochten zwanzig oder
mehr Bewaffnete sein. An der Spitze prügelte eine dürre
Gestalt mit weißem Kopfverband bei jedem Galoppsprung
auf ihr Pferd. Was auffiel war, daß die Reiter nicht
das Grün und Gold der Garde von Mar sa La trugen,
sondern das Gelb und Schwarz des Herzogs d'Assel.
D'Assel war ein alter Geier, der einst zum Kreis des
Kanzlers von Hunnegg gehört hatte. Nachdem dieser
liederliche Greis von einer geheimnisvollen Krankheit
hinweggerafft worden war, verließ d'Assel die
Hauptstadt und kehrte in sein Herzogtum zurück. Von
dort aus schickte er jährlich Freundschaftsboten an
unseren guten König Henri und bekundete gelegentlich
sogar die Absicht, sich mit seinem Herzogtum dem Reich
anzuschließen.
So konnte er es wagen, seine Farben im Reich zu zeigen,
wenn auch die Leute, die seinen Sold nahmen, harte und
gemeine Kerle waren.
Das Gerücht sagte, jeder zweite von ihnen sei für einen
Meuchelmord gut, wenn nur genügend bezahlt wurde.
Jetzt war Eile vonnöten. Als Junge war ich eine
Zeitlang von Geheimschriften und unsichtbaren Tinten
fasziniert gewesen und hatte noch auf dem Schulweg
Geheimsprachen und in der Klasse Geheimzeichen geübt.
So ließ ich nun einmal scharf das Gekreisch einer
Elster ertönen, und nach genau fünf Sekunden kreischte
die Elster noch dreimal. Beim dritten Schrei warf der
Dieb sein Pferd herum und gab ihm die Sporen. Das arme
Wesen im Damensitz wurde mitgezogen und hielt sich
verzweifelt am Sattel fest. Der Magier galoppierte
hinterdrein.
Loger ritt in gerader Linie auf die Stelle zu, von der
er das Warnsignal vernommen hatte. Am Fuß des Hügels
sprangen der Dieb und der Magier ab und zogen das Pferd
der Frau den Hang hinauf.Ihre ledigen Pferde trabten
hinterdrein. Nach wenigen Minuten waren sie an meinem
Standort.
Ich sah in zwei erstaunt aufgerissene Augenpaare. Von
der Frau war kaum etwas zu erkennen, denn sie war dicht
verschleiert. Allerdings sah ich, daß ihre Hände mit
einem Seidentuch an den Sattel gefesselt waren. In
welchem schmutzigen Handel hatten die beiden
abzukassieren versucht?
Ich zeigte in die Ebene. Der Dieb ließ keine Regung
erkennen, er war Berufsrisiken gewohnt. Der Magier aber
zuckte sichtbar zusammen, als er die gelb-schwarzen
Überwürfe über den Rüstungen erkannte.
Unten schwärmte die Horde aus. Ich zeigte nach vorne,
und wir ritten in schnellem Trab weiter in das
Hügelland hinein. Bald trafen wir auf einen Bach. Ich
wies die Gesellschaft an, durch das Wasser bergauf zu
reiten. Mit einem Ast fegte ich über die Stelle, an der
die Pferde den Weg verlassen hatten.
Etwa eine halbe Stunde lang konnten wir dem Bach
bergauf folgen.
Dann kam eine flache Steinplatte bis an das Wasser
heran, und dahinter erstreckte sich ein Geröllfeld. Ich
schickte die Gesellschaft aus dem Bach, zupfte den Dieb
am Ärmel und zeigte auf die Steinplatte. Er murmelte
seinen Reinigungsspruch. Wir mußten fünf angstvolle
Minuten ohne Deckung über den Hang reiten, bis wir ein
Buschwäldchen erreichten und uns darin versteckten. Ich
ließ anhalten.
"Onkel", stöhnte der Dieb, "es war eine so schöne
Gelegenheit".
"Ruhe!" sagte ich leise, "weg mit den Schleiern".
Der Magier, der sich in Fragen von Frauenkleidern
auszukennen schien, erledigte das im Handumdrehen. Wir
wurden mit dem Anblick einer reizenden jungen Dame von
offensichtlich vornehmer Herkunft
belohnt, mit kohlschwarzem langen Haar, langen Wimpern
und tiefblauen Augen.
Leider war das Fräulein nicht bei voller Contenance und
arg zerzaust. "Die Fesseln!" sagte ich, und der Magier
band das Seidentuch los. Ohne Fesseln und ohne die
Unmenge von Schleiern erholte sich das Dämchen im
frischen Bergwind jedenfalls so weit, daß es in wenigen
Sekunden zu einem schrillen Geschrei anheben würde. Ich
bemühte mich um ein besonders onkelhaftes Aussehen und
sprach unfairerweise einen der wenigen Sprüche, die ich
in meinem Leben erworben hatte.
Um mit betrunkenen Matrosen und Fischern in meinem
Gasthaus leichter fertig zu werden, hatte ich einem
reisenden Magier für horrendes Geld einen
Freundschaftsspruch abgehandelt. "Freundschaft!" sagte
ich, "wir sind Freunde", und hob das Mädchen vom Pferd.
"Beruhigt Euch, gutes Fräulein, Ihr seid nunmehr unter
Freunden". Mein Spruch war wohl für diesen schwachen
Geist zu stark ausgefallen, denn sie fiel mir um den
Hals und begann, hemmungslos zu schluchzen.
"Na, na", sagte ich, "na, na, na". Meiner Ehe wurden
keine Töchter geschenkt, nur zwei nichtsnutzige Söhne,
die sich im Augenblick irgendwo in der Weltgeschichte
herumtrieben. Und meine gute Frau weint nur beim
Zwiebelschneiden oder wenn sie wieder einmal meint, sie
habe das Selbstgeschneiderte verdorben. So bin ich
Frauentränen nicht sonderlich gewohnt.
Loger glotzte und Donisl grinste, und mein Hemd wurde
allmählich naß. "Na, na", sagte ich, "Ihr seid jetzt
unter Freunden". Schließlich bequemte sich der Magier,
mir beizustehen. Er zog ein blütenweißes Taschentuch
aus seiner Robe und begann, das Gesicht des Fräuleins
abzutupfen, bis sie ihm das Taschentuch entriß und
kräftig hineinschnaubte.
"Ich bin entführt worden", keuchte sie. "Der böse
Herzog d'Assel hat mich entführt, um meinen Vater zu
erpressen". Ich sah den Magier scharf an und zeigte
unauffällig auf den Kopf des Mädchens. Die Augen des
Magiers verengten sich.
"Ich heiße Raffaela, Tochter des Kommer", sagte sie.
"Mein Vater ist der Kanzler und weiß, daß d'Assel dem
Reich schaden will. Er hat belastende Dokumente, die er
dem König bei der nächsten Ratssitzung vorlegen wird.
D'Assel hat mich entführt und verlangt von meinem Vater
die Herausgabe der Papiere".
Ich sah Donisl an, und dieser nickte bestätigend. Das
Mädchen sagte die Wahrheit. Also hatten die beiden
Strolche die reizende Tochter des Reichskanzlers Kommer
aufgelesen.
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