VIERTES KAPITEL

bei dem man nicht mit seinem Schicksal hadern, auch nicht an kleine weiße Vögel denken sollte.

Der Abschied am nächsten Morgen drohte sich in die Länge zu ziehen. Jeder bedankte sich bei jedem. Der Magier dankte mit schönen Worten allen für seine Rettung, der Mönch mit aufrichtigen Worten dem Dieb und mir für Begleitung und Schutz, der Dieb dem Mönch für den erwiesenen Gefallen und dem Magier für wertvolle Belehrung.
Schließlich ritten wir auseinander, nachdem Loger mir ernst versichert hatte, er werde an sein Versprechen denken und in genau einem Monat an der Höhle am Paß sein.
Nun ritt jeder allein seines Weges. Nur Fontes hatte sich eine neue bewaffnete Eskorte gesichert. Der Barbar von gestern Abend wollte auf seinem Ritt nach Süden den Rand der Wüste streifen und Fontes bis dahin begleiten. So lenkte der Barbar seinen kräftigen Hengst zum südlichen Tor, und der Maulesel des Mönchs trabte hinterdrein.
Ich wandte mein Pferd wieder gen Osten. Dort hatte ein alter Freund seinen Turm, dort hielten ihn seine Studien fest, und wir hatten uns seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Dieser Tag war so schön wie der gestrige, und als meine Stute auf der anderen Seite des Tals von Mar sa La die Hügel hinauftrabte, schien mir die Sonne wieder ins Gesicht. Ich dachte über den gestrigen Abend nach. Die wenigen Worte, die ich von den Lippen des Handelsherrn gelesen hatte, lauteten: "Die Ware ist sehr kostbar. Schicke morgen genau zur Mittagsstunde zwei zuverlässige Leute zum Gespießten Baum. Sie sollen sich mit diesem Amulett ausweisen, die Ware übernehmen und weiterleiten".
Mit dem Gespießten Baum hatte es folgende Bewandnis: Vor vierzig oder fünfzig Jahren hatte eine größere Räuberbande versucht, Mar sa La zu plündern, wie man munkelte im Auftrag irgendeines minderen Herzogs. Bei dem gut organisierten Widerstand der Stadt holten sich die Kerle blutige Köpfe. Sie wurden von der Stadtgarde und einer Horde empörter Karawanenreiter gejagt, bis man den Rest der Bande irgendwo am Beginn des Berglandes stellte. Wegen des politischen Hintergrundes gab es kein abschließendes Gemetzel, sondern es wurden unversehens und zum Zorn der Karawanenleute Verhandlungen geführt. Eine Entschädigung wurde bar gezahlt, und die verbliebenen Räuber durften abziehen und sogar Pferde und Nahwaffen behalten.
Lediglich ihre Speere mußten sie abliefern. Die Räuber taten dies, indem sie hohnlachend die Speere einer nach dem anderen in eine mächtige Platane warfen. Dann rückten sie ab.
Die Geschichte hatte einen romantischen Beigeschmack und wurde bei wiederholtem Erzählen immer farbiger. Bald war der Gespießte Baum ein beliebtes Ziel für Sonntagsausflüge. Der geschäftstüchtige Priester eines kleinen Kriegsgotts baute neben der Platane ein Tempelchen und hielt das Geschäft einige Zeit in Schwung. Dann aber begann die mißhandelte Platane zu rotten, die Speere rosteten und brachen ab, und die Ausflügler blieben allmählich aus. Bei den meisten Leuten gerieten der Ort und seine Geschichte in Vergessenheit.
Ich brauchte nur eine halbe Stunde Umweg auf dem Kammweg, um von den Hügeln auf den Gespießten Baum zu sehen. Und weil mich nichts auf dieser Welt zur Eile trieb, nahm ich nach der nächsten Abzweigung den Weg nach Südosten.
Fast genau zur Mittagszeit lagen die Reste des Tempels unter mir. Aus seiner Richtung zog ein einsamer Reiter nach Mar sa La, und nach einigen Minuten kam aus dem Schatten des Tempels das saubere Pärchen Loger und Donisl, die ein drittes Pferd am Zügel führten. Darauf saß eine verhüllte Gestalt im Damensitz. Der Vorgang selbst war nicht überraschend. Loger mußte nach neun Tagen freiwilligen Berufsverbots schon Krämpfe bekommen haben. Überraschend war nur, daß der vornehme Herr Kauz nun sein Geschäftspartner war. Ich hätte gerne gewußt, was sich die beiden da ergaunert hatten. So, als sei ich selbst mit von der Partie, sicherte ich nach allen Seiten. Von meinem erhöhten Standpunkt aus hatte ich einen weiten Blick. Wahrhaftig, aus Richtung der Stadt nahte eine dicke Staubwolke. Es mochten zwanzig oder mehr Bewaffnete sein. An der Spitze prügelte eine dürre Gestalt mit weißem Kopfverband bei jedem Galoppsprung auf ihr Pferd. Was auffiel war, daß die Reiter nicht das Grün und Gold der Garde von Mar sa La trugen, sondern das Gelb und Schwarz des Herzogs d'Assel. D'Assel war ein alter Geier, der einst zum Kreis des Kanzlers von Hunnegg gehört hatte. Nachdem dieser liederliche Greis von einer geheimnisvollen Krankheit hinweggerafft worden war, verließ d'Assel die Hauptstadt und kehrte in sein Herzogtum zurück. Von dort aus schickte er jährlich Freundschaftsboten an unseren guten König Henri und bekundete gelegentlich sogar die Absicht, sich mit seinem Herzogtum dem Reich anzuschließen.
So konnte er es wagen, seine Farben im Reich zu zeigen, wenn auch die Leute, die seinen Sold nahmen, harte und gemeine Kerle waren.
Das Gerücht sagte, jeder zweite von ihnen sei für einen Meuchelmord gut, wenn nur genügend bezahlt wurde. Jetzt war Eile vonnöten. Als Junge war ich eine Zeitlang von Geheimschriften und unsichtbaren Tinten fasziniert gewesen und hatte noch auf dem Schulweg Geheimsprachen und in der Klasse Geheimzeichen geübt. So ließ ich nun einmal scharf das Gekreisch einer Elster ertönen, und nach genau fünf Sekunden kreischte die Elster noch dreimal. Beim dritten Schrei warf der Dieb sein Pferd herum und gab ihm die Sporen. Das arme Wesen im Damensitz wurde mitgezogen und hielt sich verzweifelt am Sattel fest. Der Magier galoppierte hinterdrein.
Loger ritt in gerader Linie auf die Stelle zu, von der er das Warnsignal vernommen hatte. Am Fuß des Hügels sprangen der Dieb und der Magier ab und zogen das Pferd der Frau den Hang hinauf.Ihre ledigen Pferde trabten hinterdrein. Nach wenigen Minuten waren sie an meinem Standort.
Ich sah in zwei erstaunt aufgerissene Augenpaare. Von der Frau war kaum etwas zu erkennen, denn sie war dicht verschleiert. Allerdings sah ich, daß ihre Hände mit einem Seidentuch an den Sattel gefesselt waren. In welchem schmutzigen Handel hatten die beiden abzukassieren versucht?
Ich zeigte in die Ebene. Der Dieb ließ keine Regung erkennen, er war Berufsrisiken gewohnt. Der Magier aber zuckte sichtbar zusammen, als er die gelb-schwarzen Überwürfe über den Rüstungen erkannte. Unten schwärmte die Horde aus. Ich zeigte nach vorne, und wir ritten in schnellem Trab weiter in das Hügelland hinein. Bald trafen wir auf einen Bach. Ich wies die Gesellschaft an, durch das Wasser bergauf zu reiten. Mit einem Ast fegte ich über die Stelle, an der die Pferde den Weg verlassen hatten.
Etwa eine halbe Stunde lang konnten wir dem Bach bergauf folgen.
Dann kam eine flache Steinplatte bis an das Wasser heran, und dahinter erstreckte sich ein Geröllfeld. Ich schickte die Gesellschaft aus dem Bach, zupfte den Dieb am Ärmel und zeigte auf die Steinplatte. Er murmelte seinen Reinigungsspruch. Wir mußten fünf angstvolle Minuten ohne Deckung über den Hang reiten, bis wir ein Buschwäldchen erreichten und uns darin versteckten. Ich ließ anhalten.
"Onkel", stöhnte der Dieb, "es war eine so schöne Gelegenheit".
"Ruhe!" sagte ich leise, "weg mit den Schleiern".
Der Magier, der sich in Fragen von Frauenkleidern auszukennen schien, erledigte das im Handumdrehen. Wir wurden mit dem Anblick einer reizenden jungen Dame von offensichtlich vornehmer Herkunft belohnt, mit kohlschwarzem langen Haar, langen Wimpern und tiefblauen Augen.
Leider war das Fräulein nicht bei voller Contenance und arg zerzaust. "Die Fesseln!" sagte ich, und der Magier band das Seidentuch los. Ohne Fesseln und ohne die Unmenge von Schleiern erholte sich das Dämchen im frischen Bergwind jedenfalls so weit, daß es in wenigen Sekunden zu einem schrillen Geschrei anheben würde. Ich bemühte mich um ein besonders onkelhaftes Aussehen und sprach unfairerweise einen der wenigen Sprüche, die ich in meinem Leben erworben hatte.
Um mit betrunkenen Matrosen und Fischern in meinem Gasthaus leichter fertig zu werden, hatte ich einem reisenden Magier für horrendes Geld einen Freundschaftsspruch abgehandelt. "Freundschaft!" sagte ich, "wir sind Freunde", und hob das Mädchen vom Pferd. "Beruhigt Euch, gutes Fräulein, Ihr seid nunmehr unter Freunden". Mein Spruch war wohl für diesen schwachen Geist zu stark ausgefallen, denn sie fiel mir um den Hals und begann, hemmungslos zu schluchzen.
"Na, na", sagte ich, "na, na, na". Meiner Ehe wurden keine Töchter geschenkt, nur zwei nichtsnutzige Söhne, die sich im Augenblick irgendwo in der Weltgeschichte herumtrieben. Und meine gute Frau weint nur beim Zwiebelschneiden oder wenn sie wieder einmal meint, sie habe das Selbstgeschneiderte verdorben. So bin ich Frauentränen nicht sonderlich gewohnt.
Loger glotzte und Donisl grinste, und mein Hemd wurde allmählich naß. "Na, na", sagte ich, "Ihr seid jetzt unter Freunden". Schließlich bequemte sich der Magier, mir beizustehen. Er zog ein blütenweißes Taschentuch aus seiner Robe und begann, das Gesicht des Fräuleins abzutupfen, bis sie ihm das Taschentuch entriß und kräftig hineinschnaubte.
"Ich bin entführt worden", keuchte sie. "Der böse Herzog d'Assel hat mich entführt, um meinen Vater zu erpressen". Ich sah den Magier scharf an und zeigte unauffällig auf den Kopf des Mädchens. Die Augen des Magiers verengten sich.
"Ich heiße Raffaela, Tochter des Kommer", sagte sie. "Mein Vater ist der Kanzler und weiß, daß d'Assel dem Reich schaden will. Er hat belastende Dokumente, die er dem König bei der nächsten Ratssitzung vorlegen wird. D'Assel hat mich entführt und verlangt von meinem Vater die Herausgabe der Papiere".
Ich sah Donisl an, und dieser nickte bestätigend. Das Mädchen sagte die Wahrheit. Also hatten die beiden Strolche die reizende Tochter des Reichskanzlers Kommer aufgelesen.


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(c) 1993 Holger Provos