SECHSTES KAPITEL

voller Ruhe und Frieden. Die Gründungsgesellschafter sind jetzt vollzählig.

Loger vergrub den ausgesonderten Teil der Beute, auch Kuriertasche und Papiere, weil er meinte, die beiden Siegel seien nicht deutlich genug, daß das Kopieren sich lohne. Als wir aufbrachen, war Raffaela in ihren neuen Kleidern nicht gerade glücklich. Donisl tröstete sie. Breite Schultern seien in Tass, Dodecka und Istria der letzte Schrei. Ein Abnäher hier und dort würde der Sache Schliff geben und die Figur betonen. Aber die Hosen, die Hosen seien wirklich schrecklich. Nur exzentrische Witwen würden es wagen, Hosen zu tragen. Er selbst mißbillige diese Geschmacksverirrung sehr. So war Raffaela bestens unterhalten, während wir das Vorgebirge verließen und in die Steppe hineinritten. In den ersten Stunden zogen wir an zwei einsamen Höfen vorbei. Sie waren zu groß. Der dritte Hof war genau richtig. Loger und ich ritten auf das Anwesen zu. Es waren zwei Gebäude, ein Wohnhaus und ein Stall, darum große Pferdegehege. Die hier gezüchteten Pferde machten einen guten Eindruck. Der Bauer war schweigsam und interessierte sich nur für unser Geld. Wir kauften ein recht ordentliches Maultier, zwei Säcke Hafer, einen Sack Hirse, Mehl, Hartbrot und Dörrfleisch.
Auch bat ich um zwei oder drei Decken, denn wir wollten, wie ich dem Bauern sagte, die Berge überqueren. Und in dieser Jahreszeit sei es noch recht kalt. Der Bauer wollte uns zwölf Goldstücke abpressen, aber ich handelte ihn auf acht Gold und sechs Silber herunter.
Dann ritten wir in Richtung der Berge zurück, lasen Raffaela und Donisl auf und machten außer Sichtweite einen weiten Bogen in Richtung Wüste. Den ganzen Tag blieben wir im Sattel, kauten gelegentlich Dörrfleisch und tranken einen Schluck Wasser. Raffaela klagte nach einiger Zeit über Schmerzen, aber Donisl meinte, eine Dame spräche über so etwas nicht, und nach ein oder zwei Tagen habe sie sich bestimmt eingeritten.
Am späten Nachmittag sagte Loger plötzlich, vor uns sei jemand. Er hob sich in die Steigbügel und sah nach vorne.
"Nur zwei Personen", berichtete er. "Wir umgehen sie", entschied ich und lenkte meine Stute nach rechts.
Donisl und Raffaela folgten, Loger aber zögerte. Er murrte, zwei zusätzliche Pferde seien ganz nützlich, wir wären in der Überzahl, und wer weiß, was die Leutchen alles bei sich trügen. Ich erklärte geduldig, daß es jetzt das Wichtigste sei, nicht aufzufallen, und Loger war enttäuscht.
Dann, gerade als ich böse werden wollte, warf Loger sein Pferd herum, schrie "Juchhu" und galoppierte in Richtung der beiden fernen Punkte los. Er stellte sich dabei in die Steigbügel, brüllte weiter, und ließ seinen Arm über dem Kopf kreisen, um ja nicht übersehen zu werden.
Notgedrungen ritten wir anderen langsam hinter ihm her. Als wir den Ort des Treffens erreichten, hatte Loger schon seit einigen Minuten seinen Redefluß ungehemmt plätschern lassen. Der Mönch Fontes war erschüttert und murmelte ständig etwas von einem ungeheuerlichen Verbrechen, wobei mir allerdings nicht ganz klar war, welchen von den in den letzten Tagen so überreichlich begangenen Gesetzesverstößen er meinte. Der Barbar aber riß mit einer rasselnden Bewegung seinen Zweihänder aus der Scheide und grölte: "Trent d'Arby steht zu Euren Diensten, gnädiges Fräulein. Dieses Schwert wird Euch beschützen, bis Ihr wieder sicher im Haus Eures Vaters seid. Ich komme selbstverständlich mit und passe auf Euch alle auf".
Nun, das war aber eine große Beruhigung. Raffaela bedankte sich verwirrt, Fontes war entzückt, und Donisl hatte Mühe, nicht laut herauszulachen. Auch Loger grinste versteckt. Mein Kindergarten wuchs anscheinend stündlich.

Ich war nicht unzufrieden. Ich hatte nur ungern daran gedacht, den eleganten Magier eventuell elegant zu verabschieden, und zusammen mit Loger in einem Gewaltritt durch die Einöde das Mädchen auf einem harten Weg zur Hauptstadt Ber Gama zu bringen. Allzu kleine Gruppen gehen in diesem Teil der Welt leicht verloren oder werden vom Ras gefressen.
Fontes nun würde auf der Reise nicht klagen und sich zumindest bei der Zubereitung der Mahlzeiten als nützlich erweisen. Und der Zweihänder des Barbaren verstärkte unsere Gesellschaft bei einer Begegnung mit anderen Reisegruppen, die vielleicht nicht so friedfertig und gutgesinnt waren wie wir. Ich bat alle, zusammen zu treten, und fragte Fontes nach seinem Ziel. "Es ist die Kapelle von Samdavjun. Einer der Weisen meines Ordens, Franksi der Kleine, hat dort gelebt und meditiert. In seinem Angedenken soll ich die Kapelle reinigen und drei Tage dort beten. Samdavjun liegt nur einen halben Tagesritt von der Herberge von Rok Had entfernt", ergänzte er erklärend.
Die Herberge von Rok Had lag auf unserem Weg. Der Perlenpfad führt in leichten Windungen nach Südosten darauf zu und biegt dann an den letzten Ausläufern des Kirpan-Gebirges wieder nach Norden in Richtung des Herzens des Königreichs. Er würde jetzt kaum begangen sein, und die Herberge von Rok Had war sicher noch nicht bewirtschaftet. Der Perlenpfad hat seinen Namen zwar davon, daß in Abständen von jeweils zwei Tagesritten wie Perlen aneinander gereiht gute Brunnen an seinem Weg liegen. Aber zwei Tagesabstände sind für beladene Karawanen manchmal zu groß. So nehmen die meisten Handelsleute den weiteren Kandarweg, der öfter Grasland oder sogar kleine Oasen berührt und mehr Sicherheit bietet.
"Wir nehmen den Perlenpfad", wandte ich mich an die Gruppe. "Sitzt auf!"

Bis auf den Mönch griffen alle an die Zügel ihrer Pferde und setzten den Fuß in den Steigbügel. Fontes aber sah mich mit seinen großen Augen an und zupfte mit den Fingern an seiner Kutte herum.
"Ich habe einen anderen Vorschlag, Onkel Gregor. Wir sollten den Pfad der Steine gehen".
"Nun komm schon, Bruder Fontes!" Der Barbar ritt heran, als wollte er den Mönch mit einem Arm vom Boden heben und auf das Maultier setzen. Da holte Fontes aus dem Ärmel seiner Kutte eines jener Wunder hervor, für die sein Orden als Bewahrer des Wissens berühmt ist. Es war eine auf hauchdünn gegerbtem Leder sorgfältig gezeichnete Karte. Am nördlichen Rand lag Mar sa La, dann zog sich das Kirpan-Gebirge wie ein gekrümmter Finger in die Mitte der Zeichnung, und rund herum lag die Wüste. Diejenigen, die schon aufgesessen waren, saßen wieder ab und versammelten sich um Fontes, der die Karte auf einem Sandfleck ausrollte.
Donisls Augen glitzerten. "Ich werde, wenn wir heil davonkommen, Deine Oberen bitten, diese Karte abzeichnen zu dürfen, und das bezahlen, was sie fordern".
"Sie werden wahrscheinlich nur fordern, daß Du die Karte noch zweimal für andere Brüder kopierst", meinte Fontes und nahm einen Grashalm auf. "Aber täusche dich nicht. Kopieren ist mühselig, und bis mein Abt die Kopien mit seinem Ring bestätigt, hast Du krumme Finger".
Mit dem Grashalm zeigte Fontes auf den Perlenpfad. Er war so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Jede Krümmung, jeder Berg und jedes Tal waren eingetragen. Jeder Brunnen war mit seinem Namen versehen und mit Angaben über die Qualität und die zu erwartende Menge des Wassers in jeder Jahreszeit. Soweit ich vergleichen konnte, war die Karte zuverlässig.
Fontes zeigte mit seinem Grashalm auf einen braunen Streifen. "Wir sind hier am Rand der Steppe. Hier beginnt der Perlenpfad, ab hier der Weg der Steine". Er deutete auf eine gepunktete Linie, weit kürzer und gerader als der Perlenpfad. Sie führte zu den Ausläufern des Kirpan-Gebirges. In beruhigend nahen Abständen waren kleine blaue Kreise eingetragen. "Nicht jeder Brunnen wird jetzt schon Wasser führen, oder nicht genug für sechs Personen und sieben Tiere. Aber das Wasserloch hier und die Brunnen hier und hier sind sicher".
Ich hatte noch nie von dieser Abkürzung gehört, aber ich war bereit, dem Mönch und den Kartographen seines Ordens zu vertrauen.
Ich sah mich um und fand allseitige Zustimmung.
"Wir sind zu lange der breiten Straße gefolgt", sagte Donisl. "Nun laßt uns den steinigen Pfad der Tugend nehmen!"

Nach einer Stunde erreichten wir die Grenze des Graslandes. Erst wuchs das Gras noch in vereinzelten Flächen, dann wurde es spärlicher, und dort, wo sich die letzten Halme durch den Boden brachen, begannen die Steine. Bald setzten Pferde und Maultiere die Hufe vorsichtig auf rutschendes Geröll. Doch dann wurde die Farbe der Steine dunkler und ihr Zusammenhalt fester. In gleichförmigen Wellen erstreckte sich vor uns ein erstarrtes Land. Der Stein war so hart, daß die beschlagenen Hufe keine Spur mehr hinterließen. Jeder Stein glich in Größe und Form dem anderen, und jede Bodenwelle war wie die, die wir gerade durchquert hatten. Nach einiger Zeit ergriff mich seltsame Angst.
Hier würden wir uns unweigerlich verirren. Aber Fontes ritt ohne Zögern voran, und als die Sonne unterging und unsere Schatten länger wurden, meinte ich vor uns schwach eine hauchfeine Linie zu erkennen, die durch die Wüste gerade nach Südosten führte. Wir waren auf dem Weg der Steine.

Wir entschlossen uns, bald nach Sonnenuntergang Halt zu machen, und sattelten unsere Pferde in einer Senke ab.
"Wir brauchen die Pferde nicht anzukoppeln", sagte Fontes. "Die dummen Tiere fürchten sich hier so, daß sie dicht bei uns bleiben werden".
Fontes sprach beruhigend auf die Pferde ein. Aber nicht nur die Tiere schienen sich zu fürchten. Zwar hatten auch Loger und der Barbar die dünne Linie des Weges vor uns erkannt, aber jeder spürte, daß ein Mensch hier klein und verletzlich war. Fontes eilte geschäftig zwischen uns herum, schlug vor, die Sättel als Kopfkissen zu nehmen und sich für die Nacht dick in Decken einzuwickeln, und verteilte Brot und Dörrfleisch. Als er merkte, daß Raffaela kaum einen Bissen herunter bekam, begann er von Franksi zu erzählen, der so viele Jahre einsam hier verbracht hatte.
Franksi der Kleine war, wie schon der Name verriet, ein Wüstengnom gewesen, und wie viele seines Volkes ein wunderbarer Illusionist. Mit seiner weichen Stimme, so versicherte Fontes, hätte er nur für Raffaelas schöne Augen einen tiefblauen See in die Senke hier hereingesungen, mit grünen Ufern und silbern klingelndem Schilf.
Raffaela wäre dann die Prinzessin der Oase in seidenen Gewändern, die von ihrer Sänfte aus die beringten Finger durch das Wasser gleiten lassen würde, während am anderen Ufer weiße Reiher mit roten Beinen im flachen Wasser nach Fischen suchten. Und bald schon würde in einem goldenen Nachen ein schöner junger Prinz herbeigerudert kommen, um Raffaelas Schönheit zu bewundern.
Wahrhaftig, der Junge sollte doch lieber den Beruf eines Barden ergreifen. Er hatte die Veranlagung dafür. Trent, der Barbar, verdarb das schöne Bild und fragte grob, was Franksi der Kleine denn so großes geleistet habe, daß der graue Orden noch lange nach seinem Tod seiner gedenke.
"Wir trauern um Franksi", sagte Fontes mit einer seinem Alter unüblichen Weisheit, "weil seine Illusionen schön waren. Sie waren so schön, daß Franksi und viele andere meinten, erst die Illusion mache das Leben lebenswert.
Dann aber lebte Franksi die letzte Spanne seines Lebens in dieser Wüste. Er hinterließ uns, es gäbe hier so viel wahre Schönheit, daß er der Illusion nicht mehr bedürfe".
Mit diesen Worten getröstet gingen wir zur Ruhe und spürten unter unseren müden Rücken jeden einzelnen Stein in seiner schmerzhaften Realität.

Am nächsten Morgen überzeugte uns Fontes, die Zeiten der Völlerei und der Bequemlichkeit seien jetzt vorbei. Er teilte jedem für den Tag einen Kanten Brot und ein Stück Dörrfleisch zu und sagte, bis zum nächsten Brunnen gäbe es keine Rast. Wir würden zwei Stunden reiten und eine Stunde gehen und so weiter. Nach zwei Stunden Reiten sei das Gehen für die Pferde eine Erholung, und nach einer Stunde Gehen für uns das Reiten wieder eine Erleichterung.
Als erfahrener Wüstenwanderer belehrte er den Dieb und den Barbaren, man solle mit den Augen der schwachen Linie des Wegs bis zum Himmel folgen. Dort solle man eine markante Wolke ausmachen und auf diese zureiten. Wenn die Wolke sich zerstreute, müsse man wieder die Linie des Weges finden und dann eine neue Wolke.
Ich wies Raffaela ergänzend darauf hin, daß eine Reitschulhaltung einem Wüstenritt nicht angemessen sei. Sie dürfe es sich auf dem Sattel bequem machen und die Schultern hängen lassen. Beim Gehen aber sollte sie sich gerade halten, die Hüften nach vorn und den Kopf frei. Ein aufrechter Gang hebe die Moral.
So zogen wir in einer langen Linie über den Weg der Steine. Fontes hatte das zweite Maultier mit einem langen Seil an sein Tier gebunden und eilte munter voran. Wir fraßen die Meilen zwar nicht, aber wir kamen gut vorwärts. Bald merkten wir, daß wir nicht völlig allein waren. Hoch über uns zog ein Adlerpärchen seine Kreise, und ab und zu wurde eine Springmaus von den Hufen unserer Pferde aufgeschreckt und floh hinter die nächste Kuppe.

Als wir am Abend das Wasserloch Hamdi erreichten, wurden wir für die Mühen des Tages reich belohnt. Am Brunnen stand eine Herde der sagenhaften Wüstenböcke, die kaum ein Mensch in unseren Tagen noch zu sehen bekommt. Die Orix, mindestens fünfzehn Tiere, drängten sich nicht, als sie mit edler Rücksichtnahme eines nach dem anderen an das Wasserloch traten. Die langen Ohren spielten, und das silbergraue Fell glänzte in der Abendsonne. Es glänzten auch die speerspitzen Hörner, als die Tiere das Maul zum Wasser neigten.
Dieses mörderische Gehörn war der Grund, daß der Jäger den Orix fürchtete, und daß selbst der Ras es nicht wagte, eine Herde der Orix anzugreifen.
Auf dem Kamm einer Steinwoge über dem Wasserloch stand das Leittier. Ein prächtiger Bock mit stählernen Muskeln und langem Gehörn. Das Tier sah uns entgegen und seine Ohren zuckten. Ein Vorderhuf schlug nervös gegen das Gestein.
Fontes sprang von seinem Maultier und lief dem Orix entgegen. Das mächtige Tier senkte den Kopf und schritt auf Fontes zu. Trent d'Arby griff zu seinem Schwert, aber ich legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. Fontes hing nun in seliger Verzückung am Hals des Leittiers, und dieses knabberte an seinen Ohren. Nach einer langen Umarmung nahm Fontes die Arme herunter, und der Bock warf seinen Kopf zurück. Auf dieses Signal sprang die Herde davon. Der Bock schnaubte und setzte in langen Sprüngen hinterher. Silbergraue Blitze zuckten über dunkles Gestein, und dann war die Erscheinung vorbei.
Ein glücklicher Fontes rutschte uns über rollende Steine entgegen.
"Alles in Ordnung", strahlte er, "das Wasser ist süß und reichlich, und weit und breit gibt es keine anderen Leute außer uns".
Es wurde ein fröhliches Lager, trotz der harten Steine. Pferde und Maultiere soffen sich kugelrund, und wir füllten unsere Flaschen.
Fontes sang bei der Arbeit und wurde von Raffaela so offensichtlich bewundert, daß er um zehn Zentimeter wuchs. Sprechen mit Tieren sei ganz einfach, sagte er. Man müsse nur die richtige Einstellung dazu haben. Donisl flüsterte hämisch, es käme tatsächlich auf die richtige Geistesverfassung an. Fontes besäße genügend Einfalt,um sich selbst mit hirnlosen Wesen blendend zu unterhalten. Gleich und Gleich verstünde sich eben. Aber niemand hörte auf ihn.
Die Nächte einer Karawane leben von den am Lagerplatz erzählten Geschichten, und diesen Abend berichtete uns ein einfältiger Mönch von den Freuden eines Maultiers, das seinen Kopf in den Futtersack steckt, und von dem gefährlichen Leben des freien Orix in den endlosen Weiten des Steinmeers.


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(c) 1993 Holger Provos