Am nächsten Morgen war Fontes wieder als erster auf den
Beinen. Er riet Raffaela, kräftig mit den Füßen zu
stampfen und die Arme umeinander zu schlagen, um so die
Steifheit der Nacht aus den Gliedern zu treiben. Er
kündigte an, der Weg werde nun bald leichter, so daß er
eigentlich der Meinung sei, unsere Dörrfleischration
brauche nicht ganz so groß auszufallen wie gestern.
Der Barbar erwiderte, er könne sich nicht daran
erinnern, gestern überhaupt etwas gegessen zu haben,
und schon stritten sich die beiden eifrig. Loger ließ
den Hafersack auf Donisls Stiefel fallen und mußte sich
einiges anhören.
Alle waren in bester Aufbruchsstimmung.
Zunächst war der Weg aber mühselig. Die Farbe des
Gesteins wurde heller und der Untergrund wieder
bröckelig und rutschig. Für ein kurzes Stück mußten wir
absitzen und die Pferde führen. Dann ging das Geröll
allmählich in festen Sand über, durchsetzt mit großen
rötlichen Brocken. Wir konnten wieder aufsitzen. Die
Brocken wuchsen höher und höher aus dem Sand, und gegen
Mittag wurde es schwer, dem Weg genau zu folgen, weil
die Steinklötze die Sicht einschränkten. Loger
allerdings gefiel die Landschaft ausnehmend gut. Er
wies Trent d'Arby immer wieder auf diese oder jene gute
Gelegenheit zu einem Hinterhalt hin, und die beiden
ergingen sich in kleinen taktischen Planspielen. Als
wir dann aber zum zweiten mal das Gefühl hatten, vom
Weg abgekommen zu sein, versuchte Fontes, das Adlerpaar
herunterzuwinken, das seit einiger Zeit wieder über uns
kreiste. Jeder sah entweder gespannt nach oben oder
schmunzelnd auf den Mönch.
Da kam der Ras über uns. Ein furchtbares Gebrüll brach
sich an den Felsen, und ein großer gelber Schatten
stürzte herab. Der Ras hatte sich Loger als Opfer
erkoren. Logers Stute knickte zusammen. Durch eine
dicke Staubwolke sah ich, wie Loger sich in einer
instinktiven Reaktion aus dem Sattel warf und gegen
einen Felsen schlug.
Raffaela schrie. Der Hammer sprang in meine Hand. Loger
hockte am Fuß der Wand und hielt den Ärmeldolch vor
sich. Eine klägliche Waffe. Der Hammer flog und
streifte den Ras an der Hinterhand. Er warf sich
aufbrüllend herum. Loger warf den Dolch. Der Hammer
kehrte in hohem Bogen in meine Hand zurück. Der zweite
Wurf würde besser gezielt sein. Der Hammer zischte los.
Er traf den Ras in der Mitte des gewaltigen Schädels.
Jetzt gallopierte der Barbar heran. Er hatte die Zügel
fallen gelassen und schwang sein Schwert mit beiden
Händen hoch über den Kopf. Er beugte sich zur Seite,
und die Klinge pfiff in einem glitzernden Bogen
herunter, durch die Nackenwirbel des Ras bis tief in
den Hals. Blut spritzte. Der König der Wüste brach
zusammen. Der Staub legte sich, und Raffaela weinte.
Trent d'Arby sprang vom Pferd.
"Wir haben den Ras getötet! Wir haben den Herrscher der
Wüste bezwungen! Wir haben gesiegt!"
Loger taumelte heran. Sein Lederharnisch war
heruntergerissen. Das Kettenhemd war zerfetzt und durch
sein Unterkleid tropfte Blut. Er zog seinen Dolch aus
der Flanke des Tieres.
"Wahrhaftig, wir haben den Ras besiegt! Fontes wird ein
Lied daraus machen, und es wird sich an den Lagerfeuern
verbreiten".
Fontes schüttelte den Kopf. "Deine Stute ist tot, und
der König der Wüste ist erschlagen. Wie traurig".
Trent d'Arby lachte. "Dieses schöne Gefühl verstehst Du
nicht, Mönchlein. Wir sind die Sieger, die Sieger!
Raffaela, komm her und versorge den verwundeten
Helden".
Er zog Loger die Reste des Lederkollers vom Körper und
half ihm aus dem zerrissenen Kettenhemd.
"Onkel hat gesagt, es muß locker sitzen, und er hatte
recht", grinste Loger. "Mal sehn, ob mein Fell auch
locker sitzt".
Donisl opferte ein weiteres Taschentuch, damit eine
zitternde Raffaela die Wunden des Diebs säubern konnte.
"Komm her, Bruder Fontes", rief Donisl, "und tue Deine
Pflicht. Es werden nur vier hübsche feine Narben über
der Heldenbrust bleiben, gerade so viel, um bei den
Damen Eindruck zu machen".
Fontes senkte den Kopf, faßte seine Gebetskette fester
und sprach. Loger biß die Zähne zusammen, und die
Wunden schlossen sich langsam, bis nur vier leichte
rote Striemen übrig blieben.
"Beweg Dich in den nächsten Tagen nicht zu heftig",
sagte Fontes. Dann ging er, die tote Stute des Diebes
abzusatteln. "Aber dabei kannst Du mir schon helfen".
Der Kadaver der Stute wurde von den zwei Maultieren
hinter einen Felsen gezogen. Für den Körper des Ras
brauchten wir die Maultiere und den Hengst des
Barbaren. Obwohl wir mitzogen, war es eine harte
Arbeit.
"Schade, daß wir das Fell nicht mitnehmen können",
meinte Trent.
"Es wäre eine Zierde für jede Burg".
"Nimm wenigstens die Trophäen", sagte ich. "Du wirst
sie allerdings mit jemandem teilen müssen. Es hat mich
schon gewundert, daß der Ras so langsam war". Mit
diesen Worten zog ich mit einem Ruck einen
abgebrochenen Speer aus der Schulter des Ras. Es war
eine kurze vierkantige Spitze mit langem eisernen
Schaft. Der Schaft war mit eingelegtem Silberdraht
verziert, eine gute Gnomenarbeit.
"Ach was", sagte Trent, sah sich die Speerspitze an und
warf sie in den Sand. "Der Ras war noch ganz munter.
Ich glaube nicht, daß jemand zum Teilen übrig geblieben
ist".
Dann brach er dem Ras die Reißzähne aus dem Maul. Die
oberen waren, selbst mit seiner Hand gemessen,
spannenlang, die unteren noch mehr als fingerlang. Er
wickelte die Zähne in ein Tuch und steckte sie in
seinen Gürtel.
Dann sattelten wir unser zweites Maultier mit Logers
Sattel, verteilten seine Last gleichmäßig auf unsere
Tiere und ritten weiter. Raffaela war sichtlich
bestrebt, den blutigen Ort schnell hinter sich zu
lassen. Auch die Unterhaltung des Diebes und des
Barbaren, die jede Einzelheit immer wieder
durchsprachen, schien sie anzuwidern. So schloß sie zu
Fontes auf, und die beiden ritten stumm voran.
Am späten Nachmittag begann Fontes, sich aufmerksam in
der Landschaft umzusehen. Wir müßten jetzt den nächsten
Brunnen erreichen, einen künstlich gegrabenen mit einem
Holzdeckel versehenen Bau, der von einem großen roten
Felsen mit helleren Streifen markiert werde. Aber einen
solchen Felsen könne er nicht finden.
Dann schrie er plötzlich ergrimmt auf: "Eine Illusion,
eine niederträchtige Illusion! Welcher verdorbene Geist
legt in der Wüste eine Illusion vor einen Brunnen, und
solch eine schlechte dazu?"
Er stieß dem Maultier die Fersen in die Seite, ritt ein
Stück nach vorne, und die Illusion brach zusammen. Vor
uns ragte ein roter gelbgestreifter Felsen empor. Auf
dem Weg lag der Kadaver eines kleinen gerüsteten
Pferdes. Die Kopfplatte war zerdrückt und der
Kettenumhang zerrissen.
Trent drängte sich an die Spitze. Sein Zweihänder
glänzte in der Abendsonne. Am abgedeckten Brunnen lag
der blutübersudelte Körper eines Gnoms. Fontes sprang
ab und beugte sich über den kleinen Mann.
"Er atmet noch, aber er stirbt".
Donisl hockte sich neben den Mönch und tastete den Mann
mit zarten Fingern ab. Der Helm hatte der Pranke des
Ras zwar widerstanden, aber die Kiefer waren zerfetzt
und gebrochen. Die Brustplatte hatte auch
standgehalten, darunter lag aber bis zur Hüfte eine
furchtbare Wunde, auf der das Blut bereits trocknete.
"Wir wollen beten", sagte Fontes, "und seiner Seele
helfen, sich von diesem zerschundenen Körper zu lösen".
Donisl stand auf und ging langsam auf und ab.
"Ich habe es noch nie versucht, aber es ist nicht
unmöglich, wenn jeder sein Bestes gibt. Ich habe einen
Spruch zur Heilung schwerster Wunden. Aber er wird
Stunden dauern, und während des Spruchs wird er
aufwachen. Dann wird der Schmerz ihn töten. Wenn aber
jeder von uns mutig genug ist, können wir die Schmerzen
aus seinem Körper ableiten".
"Wir werden alle unser Bestes geben", sagte ich ernst.
"Fangt an, Magier!"
Donisl sah Fontes an. "Du hast deinen Spruch heute
schon einmal gesprochen. Wie oft kannst Du ihn noch
wiederholen?"
"So oft ich will", sagte Fontes stolz.
"Das weiß ich selbst, kleiner Idiot", schrie der
Magier. "Wie oft kannst Du ihn wiederholen, ohne daß Du
selbst verreckst?"
"Ohne große Gefahr noch zweimal, mit zunehmender Gefahr
dreimal, vom sechsten mal an werde ich immer das eigene
Leben einsetzen".
"Dann nimm seinen Kopf und sprich, wenn ich anfange.
Ich will nur, daß er frei atmen kann. Aber sprich
höchstens viermal. Wenn es dann nicht geschafft ist,
war es vergebens".
Fontes setzte sich und nahm den Kopf des Gnoms in den
Schoß. Mit vorsichtigem Griff band er den Helm ab. Der
Magier entkleidete seinen Oberkörper und hockte sich
vor den Mann. Er entwand der starren verdrehten Hand
den gebrochenen Speerschaft und nahm beide Hände des
Gnoms in die seinen.
"Raffaela, tritt hinter mich und fasse meine
Schultern", sagte Donisl mit sanfter Stimme. "Sei
tapfer, solange Du es ertragen kannst".
Dann begannen Mönch und Magier zu sprechen. Der Mann
fing sogleich an, sichtbar und rasselnd zu atmen.
Raffaela trat der Schweiß auf die Stirn, Tränen rannen
aus ihren Augen. Nach etwa zehn Minuten begann Raffaela
zu wimmern, und kurz darauf ließ sie los. Der Körper
des Gnoms bäumte sich auf. Loger sprang hinzu und faßte
die nackten Schultern des Magiers. Seine Hände
krampften sich zusammen. Der Magier sang. Ich sah, wie
der gebrochene Kiefer des Gnomen an seinen Platz
rückte, und die gebleckten Zähne wurden wieder von den
Lippen bedeckt. Das Rasseln des Atems ging in ein
gleichmäßiges Keuchen über. Als Logers Wunden
aufbrachen und er zur Seite knickte, schrie der Mann
kurz auf. Der Barbar schlug seine Hände in den Rücken
des Magiers und stand wie ein Fels. Ich sah, wie sich
der ausgerenkte Arm des Gnomen wieder einrenkte, und
wie das Blut der Bauchwunde wieder zu fließen begann.
Aus dem Mundwinkel des Barbaren tropfte plötzlich rosa
Schaum. Seine Hände drückten so fest zu, daß sich die
Schultern des Magiers bläulich färbten. Fontes Gesicht
war nicht mehr rosigbraun sondern kalkweiß. Aber seine
Lippen formten weiter. Der Gesang des Magiers wurde
lauter und lauter, und Trent d'Arby wankte. Als er
wegsackte, hinterließen seine Finger dunkle Striemen
auf Donisls Rücken. Der Verwundete schrie gellend.
Ich griff die nackten Schultern, und mich durchrann
flüssiges Feuer. Meine Eingeweide brannten. Der Schmerz
wogte wie ein gewaltiges Meer hoch, und die Welt brach
zusammen. Ich sah vor mir prasselnde Flammen und hörte
jemanden schreien. Ein gewaltiges Brausen erfüllte
meine Ohren, und vor meinen Augen floß Lava die Seiten
der Felsen herunter.
Erst nach einiger Zeit drang die Stimme des Mönchs zu
mir durch.
"Du kannst loslassen, Onkel Gregor", sagte Fontes' müde
Stimme.
"Was wir tun konnten, haben wir getan. Und ich glaube,
wir haben es geschafft".
Raffaela und Loger stützten mich. Donisl hockte auf dem
Sand und versuchte, sich mit zitternden Fingern eine
Decke über die Schultern zu ziehen. Mit
halbgeschlossenen Augen lächelte er Fontes an.
"Wie oft hast Du gesprochen, Fontes?"
"Viermal, so wie Du es angeordnet hast", antwortete der
Mönch.
"Ich dachte schon, ich hätte Deinen Spruch sechsmal
gehört", kam es schwach zurück. "Das war tapfer, aber
dumm. Immer die Risiken abwägen".
Dann fielen die Augen des Magiers zu.
Ich konnte jetzt ohne die Hilfe der anderen stehen.
Mein Körper war schwer, aber mein Geist leicht und
frei. Ich ging zu dem Gnom. Sein Gesicht war
wiederhergestellt und hatte angenehme Züge. Seine Augen
waren geöffnet.
"Ich danke Euch allen für Eure Hilfe", sagte er mit
klarer Stimme.
"Ich wußte nicht, daß es in diesen schlimmen Zeiten
noch Leute gibt, die an die Gemeinschaft der Rassen
glauben".
Schon war Fontes heran.
"Er darf noch nichts essen", schimpfte er grundlos,
"und in den nächsten zwei, drei Stunden auch nichts
trinken".
"Ja, Bruder Fontes", sagte ich ruhig, "erregt Euch
nicht. Wir werden Eure Anweisungen genau befolgen. Aber
macht es Euch jetzt selbst bequem und eßt etwas".
Fontes wickelte sich in seine Decken, nahm einen Kanten
Brot und kaute. Dann fiel das Brot aus seinen Fingern.
Ich schob seine Hand unter die Decken. Ich sah nach, ob
Donisl und Raffaela es bequem hatten, und der Barbar
schickte Loger los, die Pferde einzusammeln. Die beiden
sattelten ab und fütterten und tränkten die Tiere.
Loger wollte sich an der Nachtwache beteiligen, aber
Trent wies ihn an, noch einmal nach dem Magier zu sehen
und dann selbst zu schlafen.
So wachten der Barbar und ich abwechselnd bei dem ruhig
atmenden Gnom und sahen die Sterne über uns ihre Bahn
ziehen. Nach drei Stunden flößten wir dem Mann etwas
Tee ein, den er gierig trank, dann aber sofort wieder
einschlief.
"Friede zwischen den Rassen ist ein Traum", sagte Trent
d'Arby irgendwann einmal während der Nacht. "Selbst wir
Menschen töten uns gegenseitig mit Freuden, und ich
lebe davon, mein Schwert an den zu verkaufen, der am
besten zahlt".
Wir gaben dem Gnom noch einmal zu trinken, und die
Nacht verging.
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